Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
war allerdings am schlimmsten dran, hangelte sich mühsam hoch, redete wirres Zeug, fiel wieder hin.
    Er wird der Nächste sein.
    Gabriel gibt mir einen Stups. Meine Wache. Öde. Benommen. Stehe auf Skips Fuß. »Fahr zur Hölle, du Arsch!«, faucht er.
    »Du auch, du Arsch!«
    Er tritt mit seinem nackten Fuß, verfehlt mich.
    Meine Wache:
    Ich vergaß, warum ich da war. Meine Augen waren inzwischen sehr alt, schmale Schlitze, die ins Helle blicken konnten. Ich fühlte mich wie eine Fliege an der Decke. Als stünde ich auf dem Kopf, und der Himmel wäre unten und das Meer oben, und es gäbe keinen Unterschied zwischen ihnen, kein Ende, keinen Anfang von beiden. Ich war nicht beunruhigt, damals nicht, nicht richtig, obwohl ich zu zittern begann und die kleinen Härchen auf meinen Armen und im Nacken sich aufstellten. Ich könnte nicht sagen, dass ich beunruhigt war, nichts dergleichen, wäre zu viel Aufwand gewesen, was dann kam, war größer. Denn etwas Unsichtbares wuchs da tatsächlich heran, warf sein Echo voraus, wie ein Blitz, der sich in der Luft ankündigt, war größer als Meer und Himmel und lag über allem. In der Luft hing ein kleines, dünnes Geräusch, ein lebendiger Ton, der näher kam, sich fühlbar in meinem Kopf bewegte, dann hoch hinaufflog und sich ausbreitete, als plapperte eine Horde Kinder hinter dem Himmel.
    »Wirklich«, sagte Skip, »da draußen ist was. Man kann es auch hören.«
    Sein Atem stank.
    Hören ist nicht ganz das richtige Wort.
    Aber »Ja«, sagte ich, »kann ich«.
    Ich fühlte mich matt. »Was ist es denn?«, fragte ich.
    Er lächelte geheimnisvoll.
    »Du weißt es ebenso wenig wie ich«, sagte ich.
    »Hab ich was anderes behauptet?«
    »Ich weiß nicht. Ich dachte es nur.«
    »Ein paar Dinge weiß ich auch.«
    Er hockte neben mir, die Arme um die Beine geschlungen. Seine Hose war zerlumpt und aufgerissen, und beide Knie guckten durch, spitz und knochig. Während er sprach, pulte er grausam an losem Schorf am rechten Knie und sog zischend Luft durch die Zähne. »Es ist wild«, sagte er. »Sehr, sehr wild, Jaff, wirklich sehr, sehr wild.«
    Jetzt war das Geräusch ein Summen, das sich die ganze Zeit, kaum merklich, leicht veränderte. Blut sickerte aus Skips Knie, eine glänzende rote Blase. Er leckte es auf.
    »Und sehr, sehr alt.«
    Mehr Blut kam klebrig herausgequollen. Es roch wie Leber, wie Nierchen, fertig für die Pfanne.
    »Alt, Millionen und Abermillionen Jahre alt, und es läuft auf den Spitzen seiner Hufe.«
    Mein Traum, der Drache, der auf Zehenspitzen übers Meer läuft
.
    »Wenn es kommt«, sagte er, »versuch, nicht hinzugucken. Einige Dinge solltest du nicht sehen.«
    »Ich hab Angst«, sagte ich.
    Er sah mich sehr scharf an. Ich begann zu weinen, weil ich zu große Angst hatte und nichts mehr klar zu Ende denken konnte. Er saugte an seinem Knie.
    »Mir ist schwindelig«, sagte ich.
    Er saugte weiter an seinem Knie, und jetzt weinte ich nicht nur, sondern sabberte auch.
    »Dan«, sagte Skip, »Jaff geht es nicht gut, er sollte nicht Wache schieben.«
    Blut. Probieren. Das sollte man machen. Besser als Leder. Nur ein kleines bisschen. Wenn ich an den rohen Hautfetzen an diesem Riss im Ellbogen ziehe, kann ich ihn zum Bluten bringen, und der Schmerz macht gar nichts. Aber da komme ich schlecht dran. Wenn diese Stelle hier auf dem Handgelenk größer wird, ist mir alles egal, das Salz und das Brennen und die schleichende
Angst, alles was ich will, ist was zu essen, es hat nie etwas anderes gegeben, nie.
    »Alles gut, Jaff«, sagte Dan.
    »Er soll sich hinlegen.« Tims Stimme.
    Ich schlief ein. Als ich erwachte, war es kühler, und ich fühlte mich stark genug, um mich aufzusetzen. Die zwei Boote waren zusammen, absolut regungslos. Ich hörte Stimmen.
    »Was sagte er?«
    »Wenn ich das wüsste.«
    »Klingt nicht mal englisch.«
    »Portugiesisch?«
    » Obrigado, obrigado, tres Senhora, tres, per favore . . . «
    In Horta, am Strand, die alten Bettlerinnen, die ihre Hände ausstreckten.
    »Es ist vorbei mit ihm«, sagte der Kapitän.
    John Copper.
    Dan legte das Gesicht in die Hände. Die Sonne schimmerte rot auf dem Wasser. Wir hüpften lahm auf den Wellen. Da sind wir – wie viele? – bestimmt nicht – wie viele? – schließ die Augen, und wir sind alle wieder da, Billy Stock und Joe Harper und Henry Cash, alle, und es ist nichts geschehen, gar nichts, du kannst dorthin zurückkehren, das ist mühsam, und du brauchst alles an Kraft, was du noch aufbieten

Weitere Kostenlose Bücher