Der Atem der Welt
hatten keinerlei Ähnlichkeit mit normalen nächtlichen Träumen. Sobald ich die Augen schloss, stürzten sie übereinander wie die Wellen da unten. Tim starb: Worte Worte Worte. Hin und wieder lutschte ich an meinem köstlichen Knochen, atmete seinen guten Geruch, herzte und hielt ihn. Meine Geschwüre gerinnen. Ich bin ein Bruder der
Drachen und ein Gefährte der Eulen. Der Knochen liegt quer auf meiner Brust und pocht wie ein Herz. Der Knochen und ich werden weitermachen. Wenn ich weinen möchte, weil ich Angst habe, stecke ich den harten, glatten Knubbel am Ende des Knochens in den Mund und sauge mit geschlossenen Augen daran und gleite in einen ohnmächtigen Schlaf und verweile dort für eine lange, süße Zeit, bis er endlich aufs Kissen fällt. Ich schreie, und er ist wieder da. Ich liege auf meiner Pritsche in Bermondsey. Der dunkle Fluss plätschert gegen die Stützpfeiler. Mama ist da. Big Ben schlägt zehn. Der Tiger, eine Sonne in voller Glorie, schreitet leise auf Samttatzen und richtet seine goldenen Augen auf mich, blickt mich an wie das Meer: Irgendwann werde ich dich fressen, es hat keine Eile. Nimm es nicht persönlich.
Die dunkle Silhouette eines riesigen Kopfes ist über der Bootswand aufgetaucht.
Dan schüttelt meine Schulter, und ich schreie.
»Alles in Ordnung, Jaff«, sagt er und klingt müde. »Du kannst wieder schlafen.«
Es war hell. Dan lag da mit halb geschlossenen Augen und rauchte eine unsichtbare Zigarre. Skip stand im Bug und starrte ernst gen Osten. Tim konnte ich nicht sehen, aber ich wusste, dass er noch hier war. Ich spürte ihn. Ich spürte ihn auch in mir, als hätte er mich in Millionen Kanälen durchlaufen, Kanälen so dünn, dass kein normaler menschlicher Sinn sie wahrnehmen kann. Ich schloss die Augen und hielt mich an meinem Knochen fest. Und all jene Welten begannen wieder zu rumoren, Welten über Welten, die flüsterten und raschelten wie Millionen zitternder Blätter in einer frühen Herbstnacht, wenn das Wetter kurz vorm Umschlagen ist und du es schon riechen kannst. Tabak ist nur Indianerkraut. Einst auf der Treppe in Wapping.
Als ich das nächste Mal aufwachte, war es dunkel. Skip schlief, und Dan lag auf dem Rücken, hatte die Hände hinter dem Kopf
gefaltet und starrte mit so ernsten Augen in den Nachthimmel, als könnten ihm all die Sterne da oben etwas offenbaren.
»Dan«, sagte ich.
Er antwortete nicht. Ich dachte, er wäre vielleicht tot und seine Augen wären für immer mit ihrem Blick zu den Sternen eingefroren.
Nach einer Weile sagte er: »Damals hatte das Leben mehr Sinn.«
»Dan.«
»Was ist?«
Aber ich hatte vergessen, was ich sagen wollte, also ließ ich den Kopf wieder nach hinten fallen und beobachtete gemeinsam mit ihm den Himmel. Er war schwarz und sternenübersät. Hier auf dem Meer ist sternenübersät aber nicht dasselbe wie in London. Hier ist sternenübersät eine beobachtbare Unmöglichkeit, und der Blick in den Himmel ist einer in die Unendlichkeit.
»Was ist das für ein Knochen?«, fragte Dan.
»Ein Armknochen«, erwiderte ich.
Weiß schimmernd lagen andere Knochen kreuz und quer auf dem Bootsboden. Skips ausgestreckter Arm strich darüber hin.
Dan begann unkontrollierbar zu lachen, ein angespanntes, ersticktes Krächzen, das überhaupt nicht mehr aufhörte, und die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er wischte sie mit den Fingern ab und schmierte sie sich um das welke Loch seines Mundes.
»Wie wird es wohl für den Letzten von uns sein?«, fragte ich den Himmel.
Dan schüttelte den Kopf, setzte sich auf, schneuzte sich in die Hand und schleuderte den Rotz weg.
Mein Mund hat geblutet, mein Zahnfleisch ist vollkommen schwammig. Ich kann Blut zwischen den Zähnen schmecken, streng und gut, und ich schlucke es herunter. Mein Hals kratzt. Im Augenblick habe ich keine besonders schlimmen Schmerzen. Bis auf die Augen.
»Bald ist es Morgen«, sagte Dan.
Und als er anbrach, schlief Skip immer noch.
Als wir ihn aufzuwecken versuchten, wollte er die Augen nicht öffnen. Er schlug nach uns, zitterte, verzog das Gesicht und brummte wütend, also ließen wir ihn in Ruhe. Er wird bald sterben, dachte ich. Lohnt nicht, noch einmal auszulosen, es ist klar, dass er als Erster geht. Was dann? Dan und ich. Wer dann? Er oder ich. Allein. Werde ich es sein? Was dann?
Ich lache.
»Was ist?«, fragt Dan.
»Ich hab gerade überlegt, wie es ist, wenn es nur noch uns beide gibt.«
Nach einer Weile lachte er ebenfalls und versuchte sich an
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