Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
einem Lied:
     
    Sagt Fresssack Jack zu Saufbold Jimmy
    Hab Kohldampf wie ein Tier –
     
    Ich fiel mit ein:
     
    Zu Fresssack Jack sagt Saufbold Jimmy
    Nix übrig außer wir.
     
    Man weiß doch, wieso Menschen lachen, oder? Es kitzelte uns beide so sehr, dass unser Giggeln schließlich Skip aufweckte. Er schoss hoch wie eine auferstandene Leiche, Truthahnhals und glotzende Augen. Ich ertrage diese Augen nicht. Viel zu bitter, das zu sehen, was in ihnen ist.
    »Es war gelb«, sagte er.
    »Was denn?«
    »Seht mal her«, sagte Dan und breitete das, was von unseren Vorräten noch übrig war, vor uns aus. Genug, um eine Ratte vielleicht einen Tag am Leben zu halten.
    »Es war gelb –«
    »Seht es euch an.«
    »– wie ein Auge.«
    »Seht es euch an«, sagte Dan, »das ist alles.«
    So eine läppische Menge! Sofort begannen Dan und ich wieder wie irre zu lachen, was Skip wütend machte. »Werft es über Bord!«, brüllte er. »Dann ist es vorbei!« Er versuchte aufzustehen, kippte aber sofort vornüber und schlug mit seinen aufgerissenen Knöcheln leicht gegen die Bootswand, was Flecken hinterließ.
    »Verdammte Scheiße, ich hab die Schnauze voll, ich hab die Schnauze gestrichen voll!«, stieß er hervor.
    »Was hast du vor?« Dan legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Das Boot leck schlagen?«
    »Wär besser.« Er zog sich hoch auf die Knie. Ein heftiges Feuer brannte auf seinen Wangen und seiner Stirn.
    »Was war gelb?«, fragte ich.
    Skip schob seine Augen wie schwere Säcke zu mir hin. »Ich weiß, was du denkst«, sagte er.
    »Nein, tust du nicht.«
    »Ich weiß alles.« Seine Augen veränderten sich, schalteten von Zorn auf Entsetzen. Es war nicht er, der aus seinen Augen blickte. »Du willst, dass ich sterbe«, sagte er.
    »Nein.«
    »Setz dich«, sagte Dan und zog an seinem Hemd.
    »Du willst mich umbringen.«
    »Nein.«
    Das wollte ich auch nicht. Ich wollte ihm das Gesicht zerschmettern, weil er mich daran erinnerte, dass ich Tim getötet hatte.
    Ich habe Tim getötet.
    Es klingt töricht, aber ich begriff es erst in dem Augenblick. Es war, als stürzte ich aus großer Höhe.
    »Ich habe Tim getötet«, sagte ich. Mir wurde schlecht.
    »Das hast du nicht!« Dan versuchte sich aufzurichten, sank aber wieder zu Boden.
    Ich begann zu stöhnen, ein blökendes, unordentliches, mäanderndes Etwas, das absolut unabhängig von mir wie ein langes Band aus meinem Mund hervorquoll. Ich schob mir die Fäuste in den Mund, damit es aufhörte. Das war nicht ich, das war ein Ding in meinem Körper, das mit Gewalt herauswollte. Ich hatte keine Kontrolle darüber. Und während diese Klage anhielt, sich in den schwappenden, plätschernden Wellen verlor, stieg etwas Unsichtbares zu uns ins Boot. Ich versuchte, mich hinter Dan zu verstecken. Blinde, magenverkrampfende Scheißangst, gegen die ich machtlos war. »Lass mich in Ruhe«, schluchzte Skip. Dan kämpfte sich hoch, ein irr blickendes Wesen, der zerlumpte alte Totenkopf-Mann des Meeres.
    »Her zu mir«, sagte er.
    Wir drei kauerten uns in den Bug.
    »Nicht denken«, sagte Dan.
    Der klebrige Klammergriff der Angst. Ich war eine Fliege, die versuchte, wenigstens eines ihrer fadendünnen Beine aus dem Sirup zu ziehen.
    »Mach, dass es aufhört«, sagte ich.
    »Nicht denken.«
    Ich blickte hoch und sah, dass Dans Gesicht nass von Tränen war. Oder war es der Regen, der gerade begonnen hatte, ein liebliches englisches Nieseln?
    »Ich habe Tim getötet«, wiederholte ich. Es schien wichtig, das als ewige Wahrheit zu begreifen, als unwiderrufliche Tatsache, die ins Universum eingehen würde. Dan schloss die Augen, Wasser rauschte herab. Ich konnte nicht entscheiden, ob er lachte oder weinte. »Du wirst ein langes Leben haben, Jaff«, sagte er. »Verdirb es dir nicht damit.«
    »Schick ein Schiff«, schrie Skip, seine helle Möwenstimme schrillte in meinem Ohr.
    Doch das änderte nichts. Ich hatte immer noch Tim getötet. Ich hatte Tim auf immer und ewig getötet, amen.
    Mein Stöhnen verwandelte sich in ein albernes kindisches Weinen, ein jämmerliches Putz-mir-die-Nase-und-nimm-mich-in-die-Arme-Gequengel. Graue und schwarze Wolken brodelten direkt vor meinen Augen. Ich gelangte an einen seltsamen Ort, weit weg und einsam wie ein Fels in einer anderen Welt, und ich vergaß, wie ich da hingeraten war, woher ich kam und wie ich hieß und überhaupt alles, spürte nur, wie ich sanft und gleichmäßig nach irgendwohin hoch oben geschoben wurde. Als ich schließlich wieder zu mir

Weitere Kostenlose Bücher