Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
weiten Fledermausflügeln in die Lüfte hinauf. Aber ich flog zu hoch, konnte nicht anhalten. Als wäre ich ein Ballon und jemand hätte die Schnur gekappt, stieg ich höher und höher und höher, fortgesogen in grässlichem Tempo, bis nichts mehr von mir übrig war außer dem Gedanken, dass ich noch immer ich war, was das auch sein mochte, und dass jetzt in jedem Augen
blick der unausweichliche Sturz erfolgen würde. Diese entsetzlichen Traumstürze: Ich bin jedes Mal erst in der allerletzten rasenden Wahnsinnssekunde sicher aufgewacht – im Bett, im Bauch der Drago , unter einem Tisch im Spooney's, mit dem Kopf im Schoß einer Hure. Jedes Mal kehrte die Welt wieder zurück. Die gute alte Welt. Dieses Mal tat sie es nicht. Alles verloren, Mamas warme Achselhöhle, Singvögel, der Mond über London Bridge, ein kleiner Goldschopf in der Menge, der Geruch nach Wurzelbier, alles dahin, und alles in einer großen Woge der Sehnsucht, eines Liebesgefühls, für das ich bestimmt war und das auch von mir gefordert wurde und das Sinn und Zweck meines Lebens war.
    Und dann stürzte ich.
    Stimmen.
    Das Wiesenrallenknarren einer Takelage. Friedlich flatternde Segel. Seegrüne feine Knöchelchen, weiße und cremefarbene Knochen von meinen Armen umfangen. Wir lieben unsere Knochen. Wir möchten uns nie von ihnen trennen.
    Ein großer Schatten senkt sich herab. Gesichter blicken auf uns nieder.
     
    Es war das Passagierschiff Quinteros , das zwischen Callao und Valparaiso segelte und uns an Bord nahm. Wir waren nicht weit von der chilenischen Küste entfernt. Ich weiß nicht, wie ich an Deck hinaufgelangte. Woran ich mich noch erinnern kann, ist ein Gefühl müden Staunens, eine seltsame Furcht, eine Stimme in meinem Kopf, die immer wieder laut schrie, als wäre sie böse auf mich. Ich erinnere mich an eine verschwommene Schar starrender Gesichter, die sich sanft bewegten, als würde irgendeine große Hand sie schütteln. Ich erinnere mich an einen Geruch wie nach gebratenen Zwiebeln und an Tränen, die mir so heftig übers Gesicht liefen, dass ich glaubte, es verlasse mich mein Lebenssaft. Meine Beine wollten mich nicht tragen. Arme griffen
nach mir. Viele Stimmen murmelten, und eine, laut und deutlich über den anderen, sprach Worte in mein Ohr, die ich nicht begreifen konnte. Es gab Tapioka in einer Schale und einen Löffel, den ich fallen ließ, als sie ihn mir in die Hand drückten. Wir waren mehr als nur halb verrückt, als wir nach Valparaiso segelten. Wir saßen da und zitterten und glotzten wie die Geistesgestörten. Und Dan sagte zu mir: »Wir erzählen nichts von dem Komododrachen«, und ich nickte, und die Zähne klapperten mir im Kopf. Und wir taten es auch nie. Ich weiß nicht, wieso. Klang vermutlich nach Unglück.

DRITTER TEIL
    15
    »Sieh mich nicht mit diesen Augen da an, junger Matrose.«
    »Was für Augen denn?«, frage ich. »Diese Augen? Das sind meine. Mit welchen soll ich dich denn sonst ansehen?«
    Rothaarig. Ein bisschen pockennarbig, aber nicht sehr. Hübsches Gesicht, Kinn zu lang. Kaum sichtbare Schorfreste im Mundwinkel, sie tut mir leid. »Wie heißt du?«
    »Faith«, sagt sie.
    »Hübsch«, sage ich.
    »Möchtest du irgendwo hingehen?«, fragt sie.
    Ich muss gegrinst haben. Sie nimmt meine Hand. »Wieso lachst du?«, sagt sie. »Lachst du über mich?«
    »Hast du denn was zum Hingehen?«
    »Doch, das hab ich. Du kommst jetzt mit mir.« Sie führte mich sehr brav im Regen durch die Straßen von Greenwich. Aufgelesen hatte sie mich am Kai, ausgesucht aus all den sonnenverbrannten Gesichtern, den Halbwilden, zu denen Matrosen werden, wenn sie nach langen Jahren auf See wieder Land betreten. Hatte mich weggezogen vom Gebrüll und Geschiebe der Schlepper, Schanghaier und Schmuggler, die alle ein Scheibchen von mir wollten. Aber ich war nicht mehr grün hinter den Ohren. Ich zitterte, als sie mich durch die herrlichen regendurchweichten grünen und grauen Straßen von Greenwich führte, wie schön sie glänzten, wie absolut herzzerreißend. Ich begann zu weinen.
    Sie merkte es, als wir das hohe, dunkle Haus erreichten. Sie stieß mich neben dem Eingang gegen die Wand in der Diele, nahm meinen Kopf zwischen ihre Hände und starrte mich mit funkelnden grauen Augen an. »Na, dann los«, sagte sie, »heul dich mal richtig aus, Kleiner.«
    »Ich bin kein Grünschnabel«, sagte ich, »ich weiß, dass du mich ausrauben willst. Nur damit du weißt, dass ich Bescheid weiß.«
    »Na bitte«, sagte sie und ließ

Weitere Kostenlose Bücher