Der Atem der Welt
dachte, wie seltsam es wäre, wenn jetzt ein Schiff aufkreuzen würde. Falls das geschähe, dachte ich, dann wäre bewiesen, dass Gott böse war. Weil er so etwas tat. Ich hatte das Gefühl für Zeit vollkommen verloren, wusste nicht, welcher Tag es war, wusste gar nichts mehr. Ich war sehr müde und sehnte mich nach Schlaf, wie ich mich noch nie nach etwas gesehnt hatte, mit meinem ganzen Körper. Ich muss dann doch geschlafen haben. Als ich erwachte, war alles vorüber, es gab einfach nur Fleisch und einen Eimer voll Zeug und ein paar Sachen in einem Beutel aus seinem alten zerlumpten Hemd. Wir bereiteten dem Beutel, so gut wir konn
ten, einen anständigen Abschied. Er war leicht und trieb eine Weile neben uns her, bevor er unterging.
Wir hatten kein Feuer. Einiges aßen wir sofort roh, rosafarbenes Herzfleisch, andere weiche Teile. Schön sparsam, schön sparsam, sagten wir. Waren ja keine Dummköpfe. Wir hatten alle drei etwas, an dem wir von Zeit zu Zeit lutschen konnten, sehr vernünftig. Fleisch, zum Trocknen aufgehängt, lange Bänder, die unsere zerfetzten Segel schmückten. Fleisch, zum Pökeln ausgebreitet. Ich sah mich immer wieder suchend nach Tim um. Ich spürte ihn noch bei uns auf dem Boot. Mein Mund war wieder feucht. Als ich mir die Lippen ableckte, blieb meine Zunge nicht wie eine Made kleben. Der Becher war drei- oder viermal herumgegangen: nipp sparsam, nipp wie eine Biene. Blut. Was empfinde ich eigentlich? Was ist es? Nicht Traurigkeit, nicht Übelkeit –
»Er hat uns ein paar weitere Tage geschenkt«, sagte Dan.
Nachdem wir gegessen haben, sind wir drei jetzt, bis zu einem gewissen Grad, heiter. Wir liegen da, schaukeln auf dem Busen der Tiefe, immer noch am Leben, am-Leben-am-Leben-oho. Wir drei? Wir vier.
»Kommt mir vor, als ob er noch hier ist«, sagte ich.
»Ist er auch«, sagte Skip. »Da!« Und er wies mit dem Kopf zum Heck des Boots.
Doch ich konnte ihn nicht sehen. Das ist ungerecht, dachte ich, wenn er da wäre, würde er sich doch mir zeigen und nicht ihm. Zeigen tat er sich nicht, aber spüren konnte ich ihn trotzdem. Es wurde dunkel, und wir lagen einfach nur da.
Was empfinde ich denn? Nicht Traurigkeit, nicht Übelkeit. Was ich tatsächlich empfinde, ist eine Art Leichtigkeit, eine unnatürliche Art von Wohlgefühl. Und das ist das Komische: Tim und ich sind einander, wie mir scheint, näher denn je. Du stehst eine Sache wie diese zusammen mit einem anderen durch – es ist nicht so, als wäre er fort, ganz und gar nicht!
Vermutlich träume ich. Es ist eine weiche, rosige Morgendämmerung mit bauschigen Wolken und murmelnder Ferne. Friedlich. Ich habe keine Schmerzen, alles ist gut, ein herrlicher Tag. Ich kann mich nicht erinnern, wie es dazu kam, dass ich hier bin. Meine Kameraden hier und ich, wir treiben nun schon viele Jahre auf dem Meer. Überall um uns herum erklingt Gelächter auf dem Meer. Es gibt seltsame Dinge da draußen, Dinge, die man nicht anschauen darf, sonst wird man zu Stein. Aber wenn ich einschlafe und John Coppers Kopf mit dem Gesicht nach oben neben dem Boot schwimmen sehe, werde ich nicht zu Stein, sondern zu weichem Gallert, und ich wache auf.
14
Ende einer langen, wirren Wache, die beiden anderen in unruhigem Schlaf und ich, der, allein auf der Welt, die Unendlichkeit beobachtet und abwechselnd in sie hinein und aus ihr heraus fällt. Fleischfetzen, an die Spieren gebunden, zittern im Luftzug, ein strenger Geruch wie von der Gerberei am Ende der Straße. Ich habe einen Knochen. Meine Zunge hat sich in die lange graue gebogene Zunge eines Hundes verwandelt und gibt keine Ruhe, ehe sie nicht den allerletzten lebenspendenden Rest aus dem wabenförmigen Herzen des Knochens gesaugt hat. Mir kommt der Gedanke, dass die ganze Welt aus derselben Substanz besteht: Die menschlichen Eingeweide sind wie die Londoner Abwasserkanäle. Skips rote Beine – geschwollene Würste. Dag schwoll auch so an. Ich liebkose meinen Knochen. Sein sahniger Geruch kitzelt meine Nase. Warum ist Skip lebendig und Tim tot? Er hätte sterben sollen, nicht Tim. Er ist sowieso schon auf dem Weg dahin. Muss ihn nur anschauen.
Ich weckte ihn auf.
»Deine Wache«, erklärte ich und legte mich hin.
Was das Schlafen anging, so weiß ich nicht, ob ich es je wieder tat. Aber andere Welten gab es auf jeden Fall: unendlich viele, die einander überlagerten wie zitternde Schleier, Kräuselungen an einem unwirtlichen Ort. Ich habe keine Ahnung, wo sie existierten, aber diese Träume
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