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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Mama gegenüber nicht richtig. Also trödelte ich ziemlich herum, und es war schon zwei Uhr, als ich bei Mama ankam. Sie erwartete mich seit dem vergangenen Nachmittag und hielt draußen auf der Straße Ausschau nach mir. Dieselbe alte Mama, nur ein bisschen grauer. Ich sah sie, bevor sie mich sah. Ihr Gesicht hätte hart wirken können, aber ich wusste, dass sie einfach in Sorge war. Als sie mich erkannte, entspannten sich ihre Züge, und sie verzog den Mund in grimmiger Freude. Sie kam ein paar Schritte auf mich zu und umarmte mich kurz und fest.
    »Geht es dir gut?«, fragte sie.
    Ich küsste sie auf die Wange. »Du hast doch nicht etwa den ganzen Tag hier gestanden?«
    »Natürlich nicht, du dummer Kerl«, sagte sie. »Ich hab immer mal geschaut.«
    Wir traten beide einen Schritt zurück. Ich werde wohl ziemlich dämlich gegrinst haben. Ihre Augen wirkten bekümmert. »Geht es dir gut?«, fragte sie erneut und sah mich scharf an.
    »Doch, ja. Einigermaßen.«
    »Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehe.«
    »Na, bitte.« Ich lachte, ein dummes Kichern.
    »Los, komm.« Sie nahm mich beim Arm und führte mich in einen Hof mit einer langen gefliesten Abflussrinne in der Mitte und einer Schmiede am anderen Ende. Der Lärm schwerer Schläge auf Metall wurde von den Mauern zurückgeworfen, und ein großes schwarzes Pferd war am Tor angebunden, sein Kopf steckte im Futtersack. Das Haus der beiden befand sich an der linken Seite, eine zweigeteilte Tür, ein Eimer mit Seifenlauge, ein breites Fensterbrett, auf dem Muschelschalen ausgelegt waren, eine große Jakobsmuschel und dazu ein paar hübsche rote Chilischoten. Das Haus war größer und sauberer als das alte und roch nach Wäsche und Fisch und Mamas altbewährter Brühe, von der ich auf dem Boot so oft geträumt hatte. Charley Grant stand breitbeinig vor einem lodernden Feuer, über dem ein Kessel an einem Haken leise summend vibrierte. Sein Gesicht war rosig wie Schinken, und er war dicker geworden, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. »Jaff«, sagte er, kam auf mich zu und fasste mich herzlich, aber linkisch an der Schulter, »wie schön, dich wieder zu Hause zu sehen.«
    »Es ist schön, zu Hause zu sein .«
    Ein Knirps von vielleicht achtzehn Monaten saß in einem hohen Kinderstuhl am Tisch, einen hölzernen Löffel in der mit Hafergrütze beschmierten kleinen Faust.
    »Sieht er nicht nett aus, Charl?«, sagte Mama stolz und schob mich auf einen Stuhl gegenüber vom Kind.
    »Ja, wirklich.«
    »Und? Was glaubst du wohl, wer das ist, Jaff?«
    Das Kind hatte ein stupsnasiges, breites Gesicht und einen überraschend üppigen Wirbel brauner Locken mitten auf dem Kopf. Es sah mich prüfend an, und ich zwinkerte ihm zu.
    »Das ist dein kleiner Bruder, Jaff«, sagte Mama entschieden. »Er heißt David.«
    »Was?«
    »Das ist eine Überraschung! David! Sag hallo zu deinem großen Bruder Jaffy.«
    David und ich betrachteten einander mit interessiertem Argwohn.
    Natürlich war es so überraschend auch wieder nicht. Immerhin war sie noch nicht alt. Sah allerdings so aus. Mama war gealtert. Nicht ganz vierzig vermutlich. Als sie mich bekam, war sie jung. Seltsam, all das. Ich kam mir sehr fremd vor. Nach all meiner Zeit auf See – dieses dampfige Zimmer, das Kind, der lächelnde Mann mit seinem Schinkengesicht und den Hosenträgern, die Hitze, die Schale mit Brühe, die sie vor mich hinstellte, die dicke Scheibe Brot, die unverkennbare Flussatmosphäre jenseits dieser Wände – alles wie eine Halluzination in meinem Kopf, wie etwas, das man kurz vorm Ohnmächtigwerden aufblitzen sieht.
    Die Brühe war ein Labsal der Götter.
    Ich merkte, dass ich weinte.
    »Alles gut, jetzt ist es vorbei«, sagte Mama, beugte sich vor, legte ihren Arm um mich und hüllte mich in ihren vertrauten alten Geruch. »Jetzt wird alles gut.«
    »Ich weiß, ich weiß.«
    Sie zeigte mir mein Zimmer. Es war winzig, aber durchs Fenster konnte man über die Dächer zum Fluss hin schauen, wo die Masten der großen Schiffe Muster in den Himmel zeichneten. Sie hatte mir ein herrliches Bett hergerichtet, mit einer seidigen Tagesdecke mit roten Blumen, und daneben, auf einem niedri
gen vierbeinigen Hocker, stand ein Strauß Mondviolen in dem alten grünen Krug, der in der Watney Street immer den Kaminsims geschmückt hatte. Mein Bett. Alles, was ich wollte, war, mich da hineinlegen und schlafen, schlafen. Aber als mein Kopf das Kissen berührte und Mama die Vorhänge zugezogen, mir einen

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