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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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auf der Straße blieb ich eine Weile stehen, atmete die würzige Luft und dachte nach. Musste zu Tims Mama. Ich lief langsam los, voller Angst, fand eigentlich, ich sollte lieber nach Hause gehen. Musste es aber endlich hinter mich bringen. Ishbel könnte dort sein. Bei dem Gedanken wurde mir ganz flau. Was sollte ich bloß sagen? Sehen Sie es doch mal so, Mrs Linver. Wenigstens bin ich wieder zurückgekommen.
    Los, bringen wir es hinter uns.
    Noch nicht.
    Ich schlüpfte in die Seemannskapelle. Nichts hatte sich geändert. Jephta und seine Tocher waren immer noch da. Der gute alte Hiob mit seinen Schwären. Was für eine Heimkehr! Dort drinnen fiel ich in eine Art Traum. Ich hatte Geld in der Tasche, und so übernahm ich fast ihren gesamten Kerzenbestand. Nun aber! Jetzt wird's lustig! Versuch, keinen zu vergessen. Ich beschloss, mit Ishbels früh verstorbenen Brüdern zu beginnen, und dachte an den Tag, als wir beide hierher gekommen waren – jener Tag –, wo waren wir gewesen? War das der Tag, an dem sie sich mit Tim zerstritt, nachdem wir Schiffschaukel gefahren wa
ren? Egal, jedenfalls für jeden der Brüder eine, schlank und aufrecht, beide nebeneinander, für immer gesichtslos. Weiter. Zähl: Joe Harper, der an Deck den Käfig baute, sein rutschender Werkzeugkasten. Eins und zwei: Mr Rainey mit seinem Spott. Drei. Der Kapitän natürlich, eher ein großer Schuljunge als der Kapitän eines Walfängers. Vier. Ach, und jetzt Martin Hannah, Pudding. Abel Roper. Und bist du? Bist du das, Mr Roper? Ha ha ha! Das macht fünf. Sechs. Jeder ein zum Leben erwecktes Licht, zitternd, aufrecht und schlank in der stillen Kapelle. Gabriel. Mein Freund. Yan, der meinen Kotzeimer hielt. Billy Stock, empört. Wo bin ich? Mal sehen, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht –? Neun: Oh, Mr Comeragh, das war ein netter Mensch. Der arme Mr Comeragh, wurde vom Drachen gebissen. Was war das für ein wildes, uraltes Wesen
. Ob er wohl zu seiner Insel zurückgekehrt ist? Marschiert er jetzt komisch x-beinig über seinen Sandstrand, mit der vorschnellenden Zunge und dem knapp über dem Boden hin und her schwingenden Kopf? Neun. Wilson Pride, plattfüßig, blutunterlaufene Augen. Zehn: Henry Cash, Kopf wie ein Seehund, ging unter. Elf: Felix Duggan, große Klappe, Nervensäge. Zwölf: Simon natürlich, der auf seiner Fiedel spielte. Wir haben nie herausgefunden, was aus dem Kapitän und Simon geworden ist. Und Sam, dreizehn. Sam Proffit, dessen Stimme ein silbernes Band war. Dag. Dag Aarnasson, der mit mir den Drachen jagte. Vierzehn. Fünfzehn:
    Mein Kopf wurde leer. Da waren natürlich wir letzten vier, Dan und Tim und Skip und ich, dann fehlten aber immer noch zwei. Sich nicht zu erinnern war grauenhaft. Als würde ich sie, indem ich sie vergaß, für alle Ewigkeit der Finsternis überantworten.
    John Copper! Wie konnte ich ihn vergessen?
    Jemanden muss ich ausgelassen haben. Oder ich habe falsch gezählt. Fang noch mal von vorne an. Eins, zwei, drei, vier . . .
    Am Ende stimmte es. Ich wäre nicht dort weggegangen, wenn
mir jemand gefehlt hätte. Von der Tür aus blickte ich zurück. Meine zwanzig Kerzen brannten gleichmäßig.
    Es war Samstag. Mrs Linver wohnte jetzt in der Fournier Street, also machte ich mich dorthin auf, Hände in den Taschen, Kragen hochgeschlagen. Ich kam durch die Watney Street, an unserem alten Haus vorbei, und hielt Ausschau nach einem Zeichen von Mr Reuben oder Mrs Regan oder sonst irgendwem, aber die Tür war geschlossen, und niemand saß draußen auf der Treppe. Dreimal traf ich zufällig auf Leute, die ich kannte, musste jedes Mal anhalten und reden, stehen bleiben und erdulden, dass mir auf die Schulter geklopft und zum Überleben gratuliert und neugierig-nervös ins Gesicht geschaut wurde. Ich drängelte mich durch das samstägliche Highway-Leben mit Huren und betrunkenen Matrosen, sturem Gelächter, kreischender Fröhlichkeit und schrillem Gefiedel hinter geschlossenen Türen. Im Eingang vom Spoony lehnte der Kellner, ein kurzer, schmutziger Mann, der eine kurze, schmutzige Pfeife rauchte. Zu meiner Zeit hatte es ihn noch nicht gegeben. Ich war versucht, hineinzugehen und etwas zu trinken, mich genau gesagt regelrecht zu besaufen, bis ich auf den Boden fallen und irgendeine Frau mich zu einem weichen Lager schleppen würde, wo ich den Kater wegschlafen könnte. Aber da war diese dunkel drohende Wolke: Los, geh zu Tims Mama. Ist dringend nötig. Ishbel könnte dort sein. Es hieß,

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