Der Atem der Welt
mich los. »Schön, dass das schon mal klar ist. Komm mit.«
Also ging es die Stufen hinauf, aber nur bis zum ersten kahlen Treppenabsatz, wo sie uns eine Kerze aus einem Schrank links an der Wand anzündete, dann durch eine fleckig braun gestrichene Tür in ein kleines Zimmer, das fast ganz von einem Bett mit indischer Tagesdecke ausgefüllt wurde. Die Kerze warf flackernde Schatten an Decke und Wände, Letztere waren hier und da mit rührseligen Bildern von Veilchen und Kätzchen geschmückt. Und im Fenster hing ein Käfig mit einem Hänfling.
»So, Faith«, sagte ich, »was nimmst du?«
Sie lächelte schief. Die lebhaften Falten auf ihrer hohen Stirn waren ebenso sprechend wie ihre Augen. Ich schätzte sie auf etwa dreißig. Nachdem das Geschäftliche erledigt war, legte sie ihre Jacke ab und setzte sich aufs Bett, um die Stiefel auszuziehen. Es war nett, fand ich. Gemütlich. Von draußen Lebensgeräusche. Schritte, die über den Bürgersteig klackten. Ich bin zu Hause, dachte ich. Zu Hause.
»Ist der von Jamrach?«
Der Hänfling.
»Weiß ich nicht«, sagte sie, »das ist nicht mein Zimmer.«
Ich drückte mein Gesicht an die Käfigstangen und betrachtete den Hänfling.
»Hänfling«, sagte ich, »Hänfling, hallo, Hänfling.«
»Ist das einer?«, sagte sie.
Ich musste wieder weinen.
»Du legst dich jetzt hin«, sagte sie, stand auf und führte mich entschlossen zum Bett. »Du hast eine halbe Stunde, leg dich einfach hübsch hin und wein ein bisschen.«
Das tat ich dann. Ich war sehr betrunken. Ich war schon betrunken, bevor ich von Bord ging. Alles war ganz verschwommen, wie verschleiert. Ich hatte sie für eine halbe Stunde bezahlt, hatte noch etwas Bargeld in meiner Hose und wusste, sie könnte versucht sein, es mir zu stehlen, wusste, dass mein Kopf voller wirbelnder Wolken war und dass ich nicht mit Weinen aufhören konnte, so wenig wie Regen aufhört, solange seine Zeit noch nicht vorüber ist. Und nun nahm ich mit einem Mal auch den Regen an der Fensterscheibe wahr, sah, wie die glänzenden Tropfen sich gemächlich bewegten, hörte sein Lied, seinen einlullenden Gesang. Mein Kopf sank auf das Kissen, ein dürftiges hartes Strohkissen, das mir weicher vorkam als Rosenblüten und Eiderdaunen. Wie konnte ich mein Geld retten, jetzt, wo ich verlöschte wie eine Kerze?
»Komm«, sagte ich, »ich habe für dich bezahlt.«
Sie legte sich neben mich, und ich nahm sie in die Arme.
»Wenn du mich beklaust, bring ich dich um«, erklärte ich.
»Nein, das wirst du nicht«, meinte sie nachsichtig, »weil du gar keinen Grund hast.«
Die Tränen wollten einfach nicht aufhören. Sie wischte mir die Nase mit einem kleinen Taschentuch, das nach Lavendel duftete. Da musste ich noch mehr weinen.
»Was ist das?«, fragte sie.
Geschwüre oben an meinem rechten Arm. Sie waren nicht verheilt.
»Nichts.«
»Jetzt reicht's«, sagte sie, »beruhige dich erst mal. Ich hab ein hübsches Angebot: Gib mir noch eine Guinee, und ich verspreche, dich nicht zu bestehlen.«
»In Ordnung«, sagte ich. Als meine Zeit vorbei war, warf sie mich hinaus, und ich lief im leichten, silbrigen Geniesel am Fluss entlang bis zur Brücke und kam durch Bermondsey, wo wir vor all den Jahren gewohnt hatten. Es war nicht besser ge
worden. Stank immer noch zum Himmel. Das Ufergelände bei der Brücke war verdreckt wie eh und je. Ich saß eine Ewigkeit lang auf den Stufen und blickte zur anderen Seite hinüber. Zum Ratcliffe Highway. Sie hat mich ziehen lassen, diese Frau, dachte ich. Aber sie wird auch gewusst haben, dass ich ein Hiesiger war.
Ich habe keine Ahnung, was ich von alledem halten soll, fragen Sie nicht. Wie könnte ich da berichten? Ich zögerte die Heimkehr hinaus, schlenderte schließlich – es ging schon gegen Mittag – sehr langsam über die London Bridge, blieb dort eine halbe Stunde lang stehen und sah zu, wie Zucker entladen wurde. Bisher hatte ich noch keinen getroffen, den ich kannte, was mir nur recht war. Die Nachricht war uns vorausgeeilt. Lange bevor wir anlegten, werden alle von unserer Geschichte gehört haben. Es würde in ihren Augen zu lesen sein, wenn sie mich anschauten, das Wissen über die Dinge, die geschehen waren. Vielleicht hätten wir lügen sollen, doch das taten wir nicht. Weiß der Himmel, wie ich Ishbel und ihrer Mutter gegenübertreten kann. Unmöglich. Halb dachte ich, ich hätte nie zurückkehren, sondern mich in einem vergessenen Winkel der Erde verkriechen sollen, aber das wäre meiner
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