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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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lang. Irgendwann mittendrin kam Dan mich besuchen. Ich lag dösend auf meinem Bett, er spazierte ins Zimmer und trat mir gegen den Fuß. »Los, komm, Jaff«, sagte er.
    Ich stützte mich auf meinen Ellbogen.
    »Hier drinnen stinkt's«, sagte er. »Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe.«
    Einen Knochen, in den ein Papagei geschnitzt war.
    »Es ist Walross«, sagte er, »ich dachte, das könnte dir gefallen.«
    »Hübsch.« Ich drehte und wendete das Ding in der Hand.
    »Wie geht es dir, mein Junge? Deine Mama sagt, du bist nicht gerade sehr unternehmungslustig.«
    »Stimmt. Immer noch müde wahrscheinlich.« Ich gähnte beim Sprechen, und er lachte. Da es keinen Stuhl gab, setzte er sich unter dem Fenster auf den Boden, wobei sich seine Jacke hinter seinem Kopf hochschob. Er fischte ein Säckchen mit süßem Tabak aus der Tasche, und dann saßen wir da und rauchten, während sich in den Zimmerecken bläuliche Dunkelheit sammelte. Manchmal wirkte er klein und alt und krumm, aber die Art, wie er dasaß und rauchte, hatte immer noch etwas eigenartig Jugendliches, und sein Haar war immer noch dicht. Allerdings hatte er einen bösen Husten.
    Ich fragte ihn: »Wie ist es? Das Leben an Land?«, und er lächelte und sagte: »Kostbar.«
    Saßen wir eine halbe Stunde zusammen? Ich glaube nicht, dass es länger war. Wir redeten nicht viel. Er sagte, von jetzt an wolle er sein Leben dem Aufwachsen seiner Kinder widmen und außerdem die Geschichte der Natur studieren. Und er fragte mich, was ich denn vorhätte. Ich wusste es nicht.
    »Ich denke, wir haben eine Pflicht, wir zwei.« Sein Gesicht war nur undeutlich zu erkennen, aber ich konnte Rauch aus seinen Nasenlöchern quellen sehen.
    »Komm mir bloß nicht damit«, sagte ich.
    Er lachte.
    »Ich weiß«, sagte er, »ich weiß, wie es ist. Aber ich bin älter als du. Das macht einen Unterschied.«
    »Weisheit? Oje!«, sagte ich. »Wenn ich mich umblicke, entdecke ich kaum weise alte Menschen.«
    Er lachte erneut. »Wer redet denn von Weisheit? Ich sage nur, dass das Alter einen Unterschied macht. Wir sind davongekommen, da haben wir die Pflicht, so viel wie möglich daraus zu machen.«
    Ich hatte es satt, zu hören, was für ein Glück ich hätte. Ich kam mir nicht wie ein Glückspilz vor. Wenn es einen Gott gibt, dachte ich, dann muss der einen ziemlichen Sinn für Komik ha
ben. Alle tot und all das Leiden und die Angst, und nicht einer, der es verdient hätte.
    »Weißt du was«, sagte ich, »es lag kein höherer Sinn in alldem. Einfach nur Zufall. Willkürlich, sinnlos. Anders kann man es nicht sehen.« Mein Zorn wuchs. »Wenn ich nun nicht mitgefahren wäre? Und beinah wäre es doch so gekommen. Dann wäre ein anderer Junge an meiner Stelle gefahren. Erinnerst du dich noch an George? Ging am Kap von Bord. Zufall! Er lebt, und sie sind tot. So sieht es aus. Blinder Zufall.«
    Das war die längste Rede, die ich seit meiner Rückkehr gehalten hatte.
    Dans Kopf war jetzt ganz in Rauch gehüllt. »Du hast recht«, sagte er.
    Eine Weile saßen wir schweigend da. Das Zimmer wurde dunkler, und aus der Küche unten roch es nach Eintopf.
    »Und was sollen wir nun tun?« Er war unsichtbar. »Sollen wir sterben?« Ein Hustenanfall. »Oder sollen wir leben?«
    Ein längeres Schweigen.
    »Die Karten sind ausgeteilt«, sagte er. »Nimm sie auf.«
    Ich hatte das Gefühl, ich müsste etwas sagen: »Ist das meine Pflicht?«
    »Ja.«
    Ich war müde, also legte ich mich wieder hin und schloss die Augen.
    »Ich gehe jetzt«, sagte er.
    Ich öffnete die Augen nicht. Er stöhnte, als er vom Boden aufstand. »Diese alten Knochen.« Er stieß einen Seufzer aus.
    Einen Augenblick blieb er noch stehen, schien darauf zu warten, dass ich etwas sagte, doch ich schwieg. Dann meinte er: »Ich weiß, wie es ist. Ich habe sie auch. Diese melancholischen Phasen.«
    Ich schwieg immer noch.
    »Du solltest mal zu uns zum Essen kommen, Jaff«, sagte er, »wenn du dich danach fühlst.«
    »Danke. Das werde ich«, sagte ich.
    Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass das so bald sein würde.
     
    Es geschah an einem Morgen, da spielte ein Akkordeon das Seemanslied Santy Anno . Der Klang wehte über die Dächer. Zum Fluss hin, zum Highway. Winter und Frühling waren vorbei, längst war Sommer. Ich brach zu einem Spaziergang auf und folgte dem Klang, fand den Spieler aber nicht, oder er hatte sich entfernt, ich weiß es nicht. Ich lief einfach herum, trödelte, blieb hier und da stehen und sah in den Fluss. Im

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