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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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menschenfressenden Schlangen. Tim erfasste den Bestand. Ich zählte, und er schrieb auf. Also . . .
    Ein chinesischer Alligator . . .
    Neben uns streckte sich der Alligator lächelnd hinter eisernen Gitterstäben aus, halb in, halb außerhalb von seinem Wasserbecken.
    Vier japanische Schweine . . .
    Vierzehn Berberaffen . . .
    Zwölf Kobras . . .
    Acht Wölfe . . .
    Gazelle, eine . . .
    Vierundsechzig Schildkröten. Nur eine Schätzung. Bei den Schildkröten wusste man nie, sie wuselten zu viel durcheinander.
    Wir kamen gut miteinander aus, Tim und ich, jedenfalls solange ich mich ihm in jeder Hinsicht fügte. Er war groß darin, mitten in der Arbeit auf und davon zu spazieren und mich mit dem schlimmsten Teil allein zu lassen. »Bin mal aufm Klo«, sagte er dazu, und das war's dann für eine halbe Stunde. Aber wenn Jamrach zugegen war, hielt er sich immer in Sichtweite, rackerte stillvergnügt, pfiff, schob eine Schubkarre. Er sei schon Jamrachs Bursche gewesen, als er noch ein kleiner Knirps war, erklärte er mir. »Kann nicht ohne mich«, sagte er. Er hatte eine bestimmte Art, sich vor mich zu schieben, über meinen Kopf hinweg zu sprechen oder mich mit der Schulter beiseitezuschubsen. Ich sagte nie etwas. Wie auch? Er war golden und groß und wunderbar, und ich war eine kleine, schmuddelige, verschissene Kreatur vom anderen Flussufer. Das wunderbare Boot zum Schwanken bringen, das mich ans hiesige Ufer befördert hatte? Niemals. Selbst dann nicht, als er ein Ei in meiner Tasche zerbrach. Selbst dann nicht, als er mir ein Mehlwurm-Butterbrot zu essen gab. Er brachte mir bei, wie man einen Affen trägt, wie man Frösche feucht und Grillen trocken hält, wo man sich hinstellt, damit der Emu einen nicht tritt, wie man einen Bären kitzelt, wie man Heuschrecken züchtet und Mehlwürmer köpft.
Aber die meiste Zeit habe ich ausgemistet, abgespritzt, Kot beseitigt, Futter püriert, Wasser gewechselt. Nur Cobbe und Jamrach durften zu den grimmigen Affen hinein oder die großen Katzen füttern. Zu Old Smokey hätte allerdings auch ich reingehen können. Er war freundlich. Aber am dritten Tag war er weg, wurde in einem Wagen abgeholt, saß hinten in der Kiste und blickte geduldig heraus, genauso wie in seinem Käfig. Kein Tier blieb lange, außer dem Papagei im Flur und Charlie, dem Tukan, und einem speziellen Schwein aus Japan, an dem Jamrach Gefallen gefunden hatte. Er machte es zu seinem Haustier, das frei im Hof herumlaufen und seinen schmierigen schwarzen Kot überall hinsetzen durfte, egal ob ich gerade gefegt hatte.
    Die Geschäfte liefen gut.
    Mein Tiger kam nach Konstantinopel, wo er im Garten des Sultans leben sollte. Ich malte es mir aus: einen heißen, grünen Dschungel mit Blumen und schimmernden Teichen, in dem mein Tiger für immer umherpirschte. Ich malte mir aus, wie der Sultan einen Spaziergang in seinem Garten machte und ihm begegnete, von Angesicht zu Angesicht.
     
    Am Freitag, fast eine Woche nachdem ich angefangen hatte, schickte er Tim und mich nach Ladenschluss ins Geschäft. Wir sollten die Vogelkäfige ausmisten, die Fische füttern und eine Lieferung Öllampen säubern, die gerade ziemlich verdreckt per Schiff aus Indien eingetroffen waren.
    Jamrachs Geschäft lag am Highway, zwei große Schaufenster und zweimal der Name: Jamrach, Jamrach stand da. Es war später Nachmittag, und in jenen ersten Tagen war ich müde, lief halb benebelt durch die Tage und Nächte, bei all dem Gehetze zwischen Hof und Spoony und zu Hause, und meine Mama sah ich kaum, weil sie so komische Schichten in der Zuckerfabrik hatte. Der Laden war eine Art verstaubte Rumpelkammer,
und es war irgendwie unheimlich, wie wir darin herumirrten und das Windlicht, gespenstisch lebendig, schwankende Schatten warf. Jeder Zentimeter Fläche war vollgestellt. Die Wände schienen einen erdrücken zu wollen. In der Mitte stand an der Treppe eine Schaufensterpuppe, eine nackte Frau mit einem Tuff schwarzer Haare auf dem Kopf. Ich kriegte eine Gänsehaut. Japanisch, behauptete Tim. »Guck mal, du kannst ihre Arme und Beine bewegen.« Und er verdrehte sie so grauenhaft, dass sie in dem flackernden Lichtschein wie ein Dämon aussah.
    Hinter dem Laden lag ein Gewirr aus kleinen Kammern, Treppen und engen Fluren mit Wänden voller Bilder: Götter, Teufel, Drachen, Blumen mit seltsam fiebrigen Blütenblättern. Berge und Brunnen, Paläste und Perlen. Alles kam mir vor wie ein Traum. Ein grüner Gott beobachtete mich

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