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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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zu einer offenen Tür kam, einem unsichtbaren gähnenden Schlund, der mir kalt ins Gesicht atmete. Ich schaffte es nicht daran vorbei. Weiß der Himmel, was schweigend dahinter lauerte. Wie lange mochte ich dort gestanden haben? Die Zeit erstarrte, ich erstarrte, das Universum erstarrte. Wie lange? Bis ich fühlte, wie meine Seele meinen Körper als Rauchfaden verließ und gänzlich frei in der Luft schwebte, zusammen mit einer Million anderer verlorener Seelen, die sich auch alle irgendwo festzuhaken hofften. Ich schwebte an der Tür vorbei und war mit einem Mal wieder mitten in der Nacht auf der Erde in Jamrachs pechschwarzem Geschäft und ertastete mir meinen Weg schneckenhaft an der Wand entlang bis zu jener Stelle, wo ich, wie ich wusste, die richtige Abzweigung zu dem Durchgang finden würde, der zum Haupteingang führte.
    Ich fand sie und schleppte mich so mühsam um die Ecke, als würde ich den Gipfel eines mächtigen Bergs erklimmen. Irgendetwas berührte mein Ohr, fast nur ein Zucken, der Atem einer Fliege oder Mücke.
    Ich überquerte den Sinai, Zentimeter für Zentimeter, war abwechselnd bei mir und außer mir, und als es keine Wände mehr zum Festhalten gab, wagte ich mich ins Leere. Ich ging langsam, mit ausgestreckten Armen. Irgendetwas packte mich direkt unter dem Knie, Schmerz durchschoss mich, scharf und abscheulich. Ich hob ab, flog und stieß mit dem Kopf an etwas.
    Dann lag ich lang ausgestreckt bei etwas Weichem, das leise klirrte und klimperte.
    So müde.
    Ich weinte. Kein einziger Lichtstrahl von den Fensterläden. Es gab keinen Grund, wieder aufzustehen. Als ich meine Stirn betastete, konnte ich da eine große, heiße, schwellende Beule füh
len. Der Rest von mir war eiskalt. Ich weinte, zog die Knie an den Körper und schlang die Arme um mich. In meinem Gehirn wirbelten all die Farben all der Dinge aus allen Teilen dieser Welt, die Matrosen und Kapitäne hierher gebracht hatten, wo sie endlich ihre Ruhe fanden. Als ich niedersank, um zu schlafen, erschien vor meinen Augen das hohe Schiff, das an der Wand hing, das Letzte, was ich gesehen hatte, bevor das Licht erlosch.
    Habe ich tatsächlich geschlafen? Eigentlich schwebte ich eher zwischen Wirklichkeit und Traum; ein stampfendes, gleitendes, endlos wieder von vorne beginnendes Segeln durch eine grenzenlose Nacht ohne das freundliche Schlagen von Uhren. Irgendwann, auf dem Höhepunkt einer Wachphase, wurde mein Verstand wundersam klar und begab sich in erwartungsvolle Habtachtstellung. Dann legte sich etwas neben mich und umschlang mich von hinten mit den Armen. Lieb und gut schmiegte es sich an mich und umarmte mich fest.
    Das war so real wie nur etwas. Doch seit jener Nacht weiß ich auch, dass ich Dinge für wahr gehalten habe, die es nicht waren.
    Natürlich hätte es kein Mensch sein können, weil er seinen Arm hätte durch den Fußboden schieben müssen, um mich festzuhalten. Was ich fühlte, war etwas jenseits von Angst. Es war ein Nachgeben, ein schneller Sturz, ein Tod.
    An mehr kann ich mich nicht erinnern.
    Der Verkäufer der Vormittagsschicht weckte mich mit dem Drehen seines Schlüssels im Schloss. Ich lag an einem Sack mit Muscheln, die klirrten und klimperten, als ich mich aufrichtete und ins helle Licht blinzelte.
    »Was zum Teufel machst du hier?«, sagte der Mann unfreundlich. »Der neue Junge? Etwa die ganze Nacht hier gewesen?«
    Ich versuchte ihm zu erklären, was geschehen war, aber er hatte nicht die geringste Lust, mir zuzuhören, und scheuchte mich hinaus. Die Sonne stand schon über den Dächern, und ich wür
de zu spät zur Arbeit kommen. Spoony hatte ich versäumt. Ich rannte direkt zu Jamrachs Hof. Cobbe schaufelte Heu. »Allmächtiger, was hast du mit deinem Schädel gemacht?«, sagte er. Tim war auf der Rampe, sprang aber sogleich an der Seite hinunter und kam zu mir gerannt. »Tut mir leid, Jaff«, sagte er und lächelte, als wäre nichts gewesen. »Konnte nichts dafür.«
    »Ich hab meine Arbeit verloren!«
    Meine Haut juckte vor Müdigkeit.
    »Aber das war ja nicht deine Schuld. Die können dich doch nicht feuern für etwas, das nicht deine Schuld ist, oder?«
    »Woher weißt du das? Du hast das absichtlich gemacht.«
    Meine Augen brannten. Mir tat alles weh. Ich boxte ihn gegen die Brust.
    »Au!«, schrie er und wich mit beleidigter Miene zurück. »Was ist denn in dich gefahren? War doch nicht meine Schuld.«
    »Du hast mich eingesperrt!«
    »Ich weiß. Hab ich erst mitgekriegt, als ich dich eben durchs

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