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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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Seite eines Messers platt.
    »Das weiß ich, Mama. Ich will ja auch nicht umkehren.« Es schien mir falsch, meine Freude zu zeigen, so unglücklich, wie sie war, aber es fiel mir sehr schwer. Ihr Gesicht war ganz rot, und sie kämpfte mit den Tränen. Während ich fünf Zentimeter über dem Boden schwebte.
    »Hört ihn euch an«, sagte sie, »er weiß nicht, wovon er redet.«
    Die arme alte Mama. Jetzt hätte man sie nicht mehr für ein Kind gehalten. Sie war dicker geworden und wettergegerbt, und ihre Haare wurden an den Schläfen allmählich grau. Ging aber
noch immer wie ein Seemann. »Ich wusste, dass es einmal so kommen würde«, sagte sie. Ihre Augen blickten traurig, und ich fühlte mich schlecht. Ich liebte meine Mama. Für mich würde sie für alle Zeiten eine warme Armbeuge in der Nacht sein.
    »Und was wünschst du dir, Mama?«, fragte ich und versuchte sie ein bisschen aufzuheitern. »Also? Was soll ich dir mitbringen?«
    »Ich will überhaupt nichts, du dummer Junge.«
    »Keine Angst, Mama! Ich werde ein gemachter Mann sein. Ich kann doch nicht mein ganzes Leben lang hier rumhängen, oder? Hier gibt's kein Geld. Wie soll ich denn später für dich sorgen, wenn ich hier ewig rumhänge? Das ist die Chance meines Lebens. Denk doch mal nach!«
    »Das ist es ja«, sagte sie, schob mich mit einer fischigen Hand beiseite und zog ihre Schürze aus. »Ich denke die ganze Zeit nach. Oh, verdammt. Hast du schon gegessen?«
    »Reichlich. Hör zu, Mama, gieß mir nur einen Tee ein.«
    »Für mich klingt das alles lächerlich«, sagte sie und ging zum Kamin.
    Ich lachte. »Aber es hat doch auch was Schönes«, sagte ich. »Wirklich. Sei doch stolz! Du kannst es allen erzählen. Mein Sohn geht auf Drachenjagd. Wie die alten Ritter.«
    »Du hast aber gesagt, mit der Jagd wirst du nichts zu tun haben!« Vorwurfsvoll stocherte sie mit dem Schürhaken.
    »Hab ich auch nicht, hab ich nicht, hab ich nicht. Das sage ich nur so. Natürlich habe ich nichts damit zu tun.« Ich lachte erneut. Ich kam mir ziemlich hysterisch vor. »Das macht doch Tim, nicht ich. Aber ich bin Teil des Unternehmens.«
    Wie außerordentlich wichtig das klang. Wie ich das bei den Mädchen im Spoony und der Malt Shovel ausschlachten würde! Das Unternehmen! Das großartige Unternehmen!
    »Du bist doch erst fünfzehn«, sagte sie, »und du weißt, dass du nicht besonders groß bist.«
    »Weiß ich.«
    Oh, und ob ich das wusste! Denn es hatte seine Vorteile. Sie liebten mich wie ein Baby, die dicken Huren, wollten mich alle an ihre weichen, zitronengelben, lavendelblauen Busen drücken. Wie viele Male habe ich mein Gesicht in diesen sahnigen Hügeln versenkt und den Duft wie Muttermilch aufgesogen, und nie wurde mir auch nur ein Penny für das abgenommen, wofür andere bezahlten. Aber jetzt war ich ein Mann. Lebt wohl, ihr Londoner Mädchen. Jaff Brown wird die Welt umsegeln, und wenn ihr ihn das nächste Mal seht, wird er was zu erzählen haben.
    »Ach, Jaffy, ich will nicht, dass du gehst!« Mama hielt sich ein Auge zu. »Ich wünschte, du . . .«
    »Bitte, Mama«, sagte ich, verlegen und gereizt.
    Bitte verdirb mir nicht alles, hätte ich gern gesagt. Ich möchte mir doch keine Sorgen um dich machen müssen, wenn ich da draußen bin. Bitte, bitte, Mama, mach es mir nicht so schwer.
    »Da steckt Geld drin, Mama«, sagte ich. »Eine Menge Geld. Er ist ein sehr reicher Mann.«
    »Komm, setz dich«, sagte sie, »trink deinen Tee.« Sie wusste, dass sie es nicht ändern konnte.
    »Das ist noch gar nichts«, sagte Tim, als ich ihn traf, »du hättest meine Mutter hören sollen. Wirklich witzig!« Und er fuchtelte mit seinen langen Fingern vor seinem Gesicht herum. »Oh nein, nicht du! Nicht du auch noch, Tim! Nein nein nein! Allmächtiger! Gott im Himmel! Nein!«
    Wir lachten. Was wäre das für ein Junge, der seiner Mutter nicht das Herz bricht?
    »Komm, wir gehen zu Meng«, sagte er.
    Ishbel war bei Meng, zusammen mit Jane vom Spoony. Das machte sie jetzt. Arbeitete die ganze Nacht durch, verdiente Geld im Quashies, in der Rose and Crown, in Paddy's Goose und ging nachmittags ins Meng. Die alte Drago gab es schon lange nicht mehr, in einer glühend heißen Juniwoche, als das glit
schige grüne Unkraut wie Neptuns Achsel roch, war das Wrack nach und nach endgültig zerborsten. Das Meng war jetzt unsere Drago. Ein Chinese in einer glänzenden roten Jacke stand an der Tür. Die Bilder an den Wänden waren aus Seide, und die große Öffnung des Kamins

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