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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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uns. Es wurde geschwatzt und gelacht. Comeragh war der Einzige in unserem Boot, der sehen konnte, wohin wir fuhren. Ich saß ihm direkt gegenüber. Er lächelte mich an. »Wir werden rudern wie die Verrückten, Jungs«, sagte er und umschloss mit seinen langen Fingern das Steuer. »Wir werden diese Scheißkerle schlagen.«
    Und das Rennen begann. Denn genau das war es, ein Rennen, das gewonnen werden musste. Wir ruderten, wir ruderten wie die Verrückten auf eine unsichtbare Beute zu. Comeragh starrte mit bebenden Nasenflügeln, ohne auch nur einmal zu blinzeln, über unsere Köpfe hinweg und gab an, wie wir rudern sollten. Wir flogen. Aus den Augenwinkeln sah ich ein anderes Boot, die stämmige Figur des Kapitäns im Heck, Dags blonden Schopf wie ein Leuchtturm, die Mannschaft, die sich mit gebeugten Rücken ins Zeug legte. Eine Meile vielleicht, und meine Schultern brannten. Lieber Himmel! Comeragh lachte. »Macht euch bereit«, sagte er und bedeutete uns zu schweigen. Ich blickte hoch. Seine Augen waren auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Er hatte eine Art, flüsternd zu rufen, so laut, dass wir ihn alle hören konnten, aber nicht laut genug, um die Wale zu erschrecken. Er beugte sich über das Steuerruder und rief zwei Schläge, drei Schläge in seinem Flüsterkommandoton, immer noch etwas fixierend, was wir nicht sehen konnten. Mein Rücken und meine Schultern brannten. Als er schließlich »Halt!« rief und wir eine Pause machten, war ich klitschnass, zitterte am ganzen Körper, und meine Handflächen brannten wie Feuer.
    Ich zwinkerte mir den Schweiß aus den Augen. Meine Nase lief. Die Lysander , drei große Masten, weiße Segel und mein Zuhause, war weit weg.
    »Simon«, sagte Comeragh.
    Und dann blickte ich auf.
    Ein Wal. Schwarz, in der Sonne glänzend. Ein aus dem Wasser ragender kastenförmiger Kopf, hoch wie eine Klippe. Zu nah.
    »Da ist er, ein Prachtexemplar«, sagte Comeragh.
    Ich spürte die anderen Boote, spürte entferntere Wale, spürte die lebhafte, aufgewühlte See, aber alles, was ich sah, war unser Wal. Sein gefurchter Schwanz, ein wunderschönes, schimmerndes Ding wie ein Falter, schwang auf und ab, schlug aufs Wasser, versank. Fort war er. Das Wasser wogte heftig, unser Boot wurde hochgetragen.
    Simon erhob sich mit seiner Harpune. Ein Bein gekrümmt, das Knie zitterte.
    »Jede Minute, jede Sekunde«, murmelte Comeragh, »kann er jetzt auftauchen – hier, hier, hier, wo bist du, mein Schöner, komm hoch für Pappi – ruhig, ganz ruhig, Simon, er wird dich überraschen, er ist ein kleiner Frechdachs, das ist er, er ist ein kleiner – wo bist du, mein Süßer? So ein wunderschöner Tag, komm hoch und sprich mit mir, sei nicht schüchtern, komm hoch und . . .«
    Er schoss in einer silbernen Fontäne an die Oberfläche, Gott sei Dank weiter weg. Er war so lang wie zwei unserer Boote.
    Simon entspannte sich ein bisschen. »Zwei Schläge«, sagte Comeragh, und wir glitten durchs Wasser, krochen wie ein Käfer einem Elefanten entgegen. Wieder tauchte er unter, so plötzlich wie beim ersten Mal. Wir krochen. Er tauchte wieder auf, weiter weg. Das schien Comeragh zu gefallen. Seine Augen hatten besorgt ausgesehen, doch jetzt lächelte er. »Ich hab dich, junger Mann«, sagte er, und wir folgten ihm.
    Ich verlor jedes Zeitgefühl. Wir entfernten uns weit von den anderen Booten, aber es gab da noch mehr Wale, die um uns herum wie Kätzchen spielten. Wir sausten mit ihnen, Regenbogenfontänen flogen durch die Luft, doch wir folgten nur dem einen, unserem Wal, der abtauchte und hochschoss, abtauchte
und hochschoss und uns über Meilen hinter sich herzog. Gott weiß, wieso Comeragh immer genau vorhersah, wo er gleich auftauchen würde. Unsere schmerzenden Rücken zerflossen in Schweiß, aber wir spürten sie gar nicht mehr, seit wir dem Wal ganz dicht auf den Fersen waren. Er war ebenfalls müde, direkt über dem Meeresspiegel saß ein kleines, trauriges, glänzendes Auge und beobachtete uns interessiert. Was für ein merkwürdiger Platz für ein Auge, dachte ich, so weit unten an der Seite. Was ist das für ein Gesicht? Wie ein Elefantenauge, wie bei den Elefanten in Jamrachs Hof. Die guten alten Elefanten! Das geöffnete weiße Maul ließ eine Reihe kleiner scharfer Zähne im Unterkiefer erkennen.
    Simon stand und hielt die Harpune bereit, ein Bein gegen die Klampe gestemmt, die Schultern angespannt. Der Wal stieß eine dicke stinkende Wolke aus, die sich auf mein Gesicht legte und mir

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