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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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in den Augen brannte. Ich schloss sie.
    »Jetzt!«, sagte Comeragh.
    Öffnete sie.
    Simon erstarrte, ein lächerlich kleines zitterndes Ding vor dem stumpfen schwarzen Kopf. Die Harpune bebte, flog und traf nicht. Sam zog sie sofort wieder herein, die Adern auf seinen Handrücken waren dick und knotig. Comeragh fluchte. »Nimm das Ruder, Baby«, sagte er zu Simon und schlängelte sich so geschickt nach vorne, dass das Boot sich kaum bewegte, »geh nach hinten.«
    Tränen liefen Simon übers Gesicht, als er an mir vorbeiging, das Steuerruder übernahm und sich die Augen mit dem Ärmel abwischte.
    Ein Wal sieht vor und hinter sich nichts. Er sieht zwei Welten, auf jeder Seite eine. Mir schien, er schaute mich die ganze Zeit an, so kam es mir jedenfalls vor. Als sei er neugierig. Wahrscheinlich gab es klügere Wale. Comeragh warf, und er traf den Wal. Der kippte, drehte die Vorderfront seines Kopfes mit einem
tonlosen Schrei in unsere Richtung, schlug drei-, viermal mit dem Schwanz und brachte die See zum Kochen, floh dann an der glatten Wasseroberfläche entlang, mit der wippenden Harpune in seiner Seite und zog uns hinter sich her. Wir wurden hin und her geschleudert, Zähne schlugen aufeinander, Knochen wurden durchgerüttelt. Konnten nicht dagegen an. Als er abtauchte, dachte ich, jetzt saufen wir ab, ganz bestimmt, aber wir flogen weiter, die Elemente kreischten in unseren Ohren, und die Walleine sang und vibrierte, bis er vor uns auftauchte und die See uns hochschleuderte.
    Er drehte sich, mit aufgerissenem Maul. Salz brannte in meinen Augen. Comeragh richtete sich mit der Lanze am Bug auf, ruhig und sicher. »Näher, näher«, sagte eine Stimme, und Meter um Meter zogen wir uns immer näher heran, Sam lenkte. Noch glänzte das Auge des Wals. Es blinzelte einmal langsam. Dann begann das Stechen. Die Lanze war zweimal so lang wie Comeragh, aber er führte sie so geschickt, dass all meine Angst verflog. Der Wal rollte auf den Rücken, schnappte mit dem Kiefer. Er wand sich. Das Meer wurde rot. Comeragh stach immer wieder zu, sieben, acht, neun Mal, zielte dabei stets auf das Herz, und als es getroffen war, spie der Wal dunklen Schaum aus dem Blasloch, eine Fontäne aus Blut, die aufstieg und von oben auf uns niederregnete.
    »Zurück! Zurück!«, schrien Comeragh und Sam, und wir griffen nach unseren Rudern, entfernten uns und sahen ihm beim Sterben zu.
    Erst jetzt begriff ich tatsächlich, dass der Wal ebenso wenig ein Fisch war wie ich. All das Blut. Dies hier war nicht wie bei den Fischen, die frisch gefangen auf dem Kai hüpften und zappelten, kein Tod auf kleiner Flamme. Dies hier war grimmiger, kochender Tod. Er starb, schlug voller Schmerz und Wut in einem Schlickmeer aus geronnenem Blut blind um sich, mahlte mit dem Kiefer, peitschte mit dem Schwanz, spuckte Schleim
klumpen und halb verdaute Fische, die stinkend auf uns fielen. Es war widerwärtig. Eine solche Kraft stirbt langsam. Wir sahen stumm und ehrfurchtsvoll zu. Zehn Minuten, fünfzehn, noch mehr. Während er so tobte, zog er immer engere Kreise, und ich flehte ihn an, er möge sterben.
    Wann bekam er Schlagseite? Nach kaum mehr als zwanzig Minuten. Endlich krängte er und blieb still liegen, eine Flosse zeigte zum Himmel. So verschied Leviathan.
    Wir zogen die Leine ein, Sam führte. War stärker, als er aussah, unser Sam. Wir ruderten durch Blut. Stinkendes Treibgut, der Mageninhalt des Wals, tanzte um uns herum. Ich musste dafür sorgen, dass die Leine sich nicht verhedderte, musste sie wieder sicher in ihrer Kiste verstauen. Tim drehte sich zu mir um. Wir waren die beiden Milchbärte in unserem Boot. Wir waren gänzlich außerstande, unsere Gefühle zu sortieren. Wir sahen einander einfach nur an.
     
    Es wurde schon dunkel, als wir den Wal zum Schiff schleppten. Zwar waren wir zittrig und benommen, aber eine Art Euphorie überhöhte jetzt das Entsetzen. Der erste Wal der Saison, er war unser. Wir waren die Jungs.
    Nicht das Boot des Kapitäns, nicht das von Mr Rainey. Unseres, das Boot von Comeragh, dem zweiten Offizier. Für Simon war es trotzdem schlimm. Zurück an Bord, wollten ihm alle gratulieren, weil sie annahmen, als Harpunier hätte er den Wal geholt. Und da hatte er gestehen müssen, dass er versagt hatte und von Mr Comeragh abgelöst worden war. Aber Tim und ich, wir konnten jetzt lachen. Dan schlug uns auf die Schulter. »Das war gut«, sagte er sehr ernst. »Gut. Nicht den Kopf verloren.« Wir hatten nicht den Kopf verloren. Wir

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