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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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»Wie willst du Bingo warm halten, wenn wir in kälteres Klima kommen?«
    »Oh.« Daran hatte ich ehrlich gesagt noch überhaupt nicht gedacht. »Dan weiß sicher wie.«
    »Glaubst du, dass er schläft?«, fragte Tim.
    »Schwer zu sagen. Er ist gerissen.«
    »Der schläft nicht«, sagte Skip.
    »Ach, natürlich, du weißt ja alles.«
    Skip ignorierte das. »Seit wir von der Insel weg sind«, sagte er, »haben wir Drachenzeit.«
    Ich schloss die Augen, sehr müde.
    »Was ich meine: Die Zeit vor dem Drachen und die Zeit danach sind nicht gleich.«
    Das Komische ist, ich wusste sehr genau, was er meinte. Es stimmte, dass sich tatsächlich etwas verändert hatte, so als wären wir in einen anderen Luftraum geraten. Ich hatte darüber nachgegrübelt und gedacht, es sei etwas, das nur in meinem Inneren stattfand. Aber indem er es formulierte, wurde es real, und das machte mir Angst.
    In dieser Nacht träumte ich von zu Hause. Ishbel und Mama waren da und noch einige Jungs und Mädels aus dem Spoony,
Ginger Jane und ihr Trüppchen, und wir zogen alle hinunter zum Fluss, und dann löste sich das Ganze irgendwie in einem gewaltigen Sonnenuntergang auf, einem Untergang, wie man sie an Themseufern nie erlebte, einem Drachenzeit-Sonnenuntergang in Scharlach und Purpur. Geweckt wurde ich von Geschrei an Deck. Der Seegang war normal. Noch zu früh, dachte ich und schlief weiter. Später fand ich heraus, dass der gute Skip sich mal wieder seltsam verhalten hatte. Rainey hatte ihn fest eingeschlafen am Drachenkäfig entdeckt, gebrüllt, er sei ein Bastard und Hurensohn, und ihn in den Niedergang zum Logis gestoßen.
    Am nächsten Morgen wollten wir ins offene Meer hinaus, als das Wetter sich änderte. Die Luft war immer noch schwül und heiß, und von Westen kam Donnergrollen. Man konnte den Sturm kommen sehen. Das ist etwas, was ich am Meer liebe: dass man das Wetter schon von Weitem sieht. So als könnte man in die Zukunft schauen. Kapitän Proctor brüllte »Segel reffen!«, und wir machten uns eilig daran, auf direktestem Weg zu wenden. Ich rannte los und deckte das Drachengehege mit einer Plane ab. Gabriel war am Ruder, aber der Befehl kam zu spät, und selbst er konnte das Schiff nicht rechtzeitig wenden. Und so erwischte der Wind uns von der Seite, und mit einem Mal war alles nur noch Irrsinn und Wahnwitz, Vögel und Wind schrien sich die Seele aus dem Leib, die Takelage riss, die Segel knallten, die Bohlen ächzten, und die großen Masten flehten um Gnade. Mir sauste der Magen in die Kehle. Das Deck neigte sich, wir fielen, ich rollte weg und hielt mich an irgendetwas fest. Mr Raineys Stimme übertönte das Kreischen, als eine gewaltige Welle von Lee über Bord kam. Wir kippten schnell über. Wir sinken, wir sinken, dachte ich, wir krängen zu stark, viel zu stark, wir kommen nie mehr hoch, oh lieber Herr Jesus, lieber Gott, bitte – die Leeseite berührte das Wasser, die Erde berührte den fetten, wolkenschweren Himmel.
    Ich rannte herum, wir rannten herum, ich war nicht bei Sinnen, ich sah Martin Hannah an einem Tau ziehen und dachte, er sieht aus, als bräuchte er Hilfe, also zog ich mit.
    Irgendwie gelang es uns, das Schiff wieder aufzurichten. Es flog vor dem Sturm dahin.
    »Bist ein guter Mann, Jaff«, sagte Hannah keuchend. Er war ein großer, stiller Kerl, den ich kaum kannte. Er neigte zu Korpulenz, hatte etwas leicht Bedrohliches und ein langsames Lächeln.
    »Selbst guter Mann«, erwiderte ich.
    Dann der Schrei: »Er bläst!«
    Es war lächerlich. Wie Proctor, selbst in dieser Situation, auf dem Achterdeck stand und sich die Lunge aus dem Hals schrie: »Rauf mit euch! Großsegel reffen – Gabriel! Ruder in den Wind – Bramsegel reffen – Boote klarmachen –«
    Wir mussten das Ersatzboot achtern losmachen. Es fing leicht an zu regnen, dazu starker Wellengang. Aber man denkt nicht nach, man handelt einfach. Bald schon rasselte der Flaschenzug, und ein Boot klatschte aufs Meer. Aufblitzende lange Ruder. Blind von der Gischt, mit schmerzenden Ohren und geschundenen Gesichtern fielen und stiegen wir mit den Wellen. Die Tränen wurden uns aus den Augen geblasen. Doch einen Wal fingen wir an dem Tag nicht, wir verloren nur ein weiteres Boot. So stand es also, zwei weniger, und das Wetter grimmig wie ein Drache. Während der echte Drache, die glasigen Augen voller Weisheit, sich wie ein Verrückter platt an die Planken presste und träge Fäden aus grünlichem Schleim sabberte und um ihn herum die Hölle

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