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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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schwarzem Haar und schmalen Augen, dürr und duldsam, nie ganz ungezwungen, immer wachsam. Aber heute glaube ich, dass er anderen vielleicht gar nichts bedeutete, von ihnen kaum wahrgenommen wurde. Trotzdem war er es, der alles in Gang brachte, er und seine gemeinen kleinen Bilder von Dämonen mit gespaltenen Hufen, da bin ich sicher: Dieser kleine Funke Angst, der nicht verlosch, auch nicht, als die Dunkelheit endlich wich und wir weitersegelten, ohne je einen Wal zu sichten, und die Tage ineinander flossen und die Zeit ein murmelnder Strom war. An bestimmte Dinge erinnere ich mich noch. An Gabriel, der im Logis sagte: »Da draußen ist irgendwo eine bösartige Stelle, wird jedenfalls behauptet.«
    Sam, der lächelte. »Mach doch den Kleinen keine Angst«, sagte er.
    »Jeder weiß das.«
    »Ich nicht«, sagte ich.
    Gabriel sah mich an. »Nein? Die Stelle, wo Sachen passieren. Wo die Essex verschwand und seitdem noch andere. Eine verwünschte Stelle im Ozean.«
    Jeder weiß das mit der Essex und all das andere auch. Man erzählt es sich auf den Walfängern. Es ist so etwas wie ein Witz.
    Dan begann zu singen:
     
    Es waren drei Männer aus Bristol
    Die fuhr'n mit dem Schiff aufs Meer
    Kekse luden sie ein und Rindfleisch
    Und Pökelfleisch und noch mehr . . .
     
    »Ich hab mal einen Mann getroffen, der diesen Owen Coffin von der Essex als Jungen kannte«, sagte Gabriel. »Ist mit dessen Vater zur See gefahren. Owen soll ein netter Junge gewesen sein und ein guter Segler wie sein Vater.«
     
    Fresssack Jack und Saufbold Jimmy
    Und Little Billy war noch klein.
     
    Der arme Owen Coffin! Der war nicht so schlau gewesen wie Little Billy. Vier oder fünf Stimmen fielen mit ein, aber wir waren alle schläfrig, und das alberne Lied klang wie ein Wiegenlied.
     
    Sagt Fresssack Jack zu Saufbold Jimmy
    Hab Kohldampf wie ein Tier
    Zu Fressack Jack sagt Saufbold Jimmy
    Nix übrig außer wir.
     
    »Wir kommen direkt an dieser Stelle vorbei«, sagte Gabriel.
    Da konnte man nicht anders als nachts wach liegen und an das arme, todgeweihte Schiff denken und an all die armen Seeleute, die vor langer, langer Zeit so ahnungslos auf der unglücklichen Essex angeheuert hatten. Und an die anderen Matrosen und Schiffe, denen allen auf verschiedene Weise dasselbe widerfuhr, seit jenes erste Schiff in See gestochen war.
    Ich kann mich noch an eine lange Sternschnuppennacht erinnern. Ich lag in meiner Hängematte und probierte Wörter aus:
     
    Wo ein tanzendes Mädchen mit Augen so blau . . .
     
    Nein, so nicht, so nicht . . .
     
    Ach, wär ich doch wieder in London zurück,
    Am Ratcliffe Highway jenseits der See,
    Wo ein tanzendes Mädchen mit . . .
     
    Moment
     
    Wo ein sowieso Mädchen mit tanzenden Schuh'n
    Wartet oder auch nicht, oh weh.
    Mit blutroten Schuh'n und einem Mund so hold
    Wo ein tanzendes Mädchen mit Locken wie Gold
    Wartet oder auch nicht, oh weh.

9
    Es näherte sich das Ende jener Zeit, der Zeit nach der Gefangennahme des Drachen, der zeitlosen Zeit. Der Zeit schlaflosen Schlafs und traumlosen Traums. Alle hatten schon eine ganze Weile auf Deck unter den Sternen getrunken. Simon spielte irgendetwas Süßes, Trauriges. Mir fällt dazu ein Bursche ein, der einst am Kai neben dem Tabakdock auf einer kleinen Harfe spielte. Die Musik floss dahin und änderte sich dabei ständig, wie menschliche Stimmungen. Oft klangen die Töne, als liefen sie treppauf und treppab. Dann wieder waren sie wie fröhliches Geläut. Und manchmal machten sie Mus aus dem eigenen Herzen. Ich saß betrunken oben im Mastkorb und bemühte mich angestrengt, mir diesen heiter beschwipsten Zustand zu erhalten, bis ich schließlich in eine schläfrige Blödheit kippte und nicht mehr vernünftig denken konnte, meinen Verstand aber mit folgender Überlegung wach zu halten versuchte: Wenn jeder der Jungs da unten eine Melodie wäre, wie sähen die wohl aus? Ich machte für jeden im Geiste eine Melodie. Einige waren einfach, andere schwierig. Aber für alle gelangen mir welche, außer für Skip. Bei ihm konnte ich mich nicht zwischen etwas Launigem und etwas Klagendem entscheiden. Nur der Ozean schenkt einem solch selige Zustände – man fällt mit uneingeschränkter Klarheit in den Strudel des eigenen Inneren, schläft mit offenen Augen und erwacht plötzlich mit klopfendem Herzen. Ich schrak hoch, weil unten gesungen wurde. Manchmal war es, als ob die Sterne dort droben, so fern von jeglichem Land, laut schrien. Hunderte von Meilen,

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