Der Atem der Welt
»wenn die Göttin es erlaubt.«
Jene langgestreckte Küste, die wie ein in der Ferne schim
merndes violettes Band wirkte, ließen wir bald hinter uns und folgten einer Inselkette ostwärts in die japanischen Walgründe. Im Meer wimmelte es von Fischerbooten und mit Salz beladenen chinesischen Dschunken. Während der heißesten Tageszeit verzog der Drache sich immer in sein Wasserbecken, die meiste Zeit aber blieb er absolut regungslos liegen, die Vorderfüße leicht aufgestellt, und rührte sich nur, um die Fische und Vögel und Schweine zu fressen, die ich ihm durch die Klappe hinwarf. Mit der Zeit fraß er alles, unsere Abfälle und Essensreste, einfach alles. Ich traute ihm nie. Er war hinterhältig. Ausmisten mussten wir seinen Stall immer zu zweit, ich mit Besen und Schaufel, Dan als Wache mit Stock und Gewehr. Denn er blieb gefährlich, obwohl er angebunden war. Er belauerte uns. Einmal drehte er den Kopf in meine Richtung, öffnete sein Maul sehr langsam und sehr weit und starrte mich an, einen ganzen traumartigen Augenblick lang. Schleimiges Geifergespinst bildete sich zwischen den beiden Kinnladen. Dann schloss er das Maul genauso langsam, eine angsteinflößende Vorstellung.
Wie kam es, dass wir irgendwann alle solche Angst vor dem Drachen hatten? Nicht nur so, wie man vor einem wilden Tier mit Klauen und Zähnen Angst hat, sondern als wäre da noch mehr an ihm. Mit dieser Kreatur holten wir uns das Unglück an Bord. Wer hatte das als Erster gesagt? Mit der Zeit sagten wir es alle. Es begann mit einer Krankheit. Bis auf Abel Roper und Wilson Pride bekamen wir sie alle, aber Gott sei Dank nicht alle zur selben Zeit. Es wird sehr dreckig und eklig auf einem Schiff, wenn jeder sich oben und unten entleert. Dann starb der arme Samson. Das war schrecklich, und es geschah tatsächlich wegen des Drachen. Samson hatte frei auf dem ganzen Schiff herumlaufen können, bis der Drache an Bord kam. Joe Harper hatte eine provisorische Barrikade errichtet, um den Hund fernzuhalten, aber an diesem schrecklichen Morgen kroch er da durch und rannte zum Käfig, und das Ding muss wild mit
dem Schwanz getrommelt haben. Ich hatte Deckswache und hörte plötzlich ein fürchterliches Bellen und lautes Geschrei und Herumgerenne. Zuerst dachte ich, der Drache hätte sich befreit und fresse jetzt Menschen, aber ziemlich schnell legte sich die Aufregung, und ich begriff, dass es ganz so schlimm nicht sein konnte. Als ich eine Stunde später nach unten ging, war der Hund tot. Zu Tode erschrocken, das arme Ding: nichts Böses ahnend, ein bisschen dumm und dann plötzlich diese Bestie. Kläffend war Samson davongerannt. Der Kapitän hatte ihn in die Arme genommen, und Samson bekam eine Art Anfall. Ob das der Grund war oder ob er sich bei seiner Flucht den Kopf an den Trankesseln zu arg gestoßen hatte, jedenfalls war er zwanzig Minuten später tot. Er bekam sein Seemanns-Leichentuch, wie es sich gehörte, wir nahmen alle mit gesenkten Häuptern Aufstellung und übergaben ihn dem Meer. Kapitän Proctor sprach ein paar Worte. Samson habe ihn zwölf Jahre lang begleitet, sagte er. Er habe Samson im Hafen von Cadiz aufgelesen und während eines Sturms in der Biskaya in der Tasche getragen, als er ein wenige Wochen alter Welpe war. Für einen echten alten Seebären, der an Deck glücklicher war als an Land, sei das Meer als letzte Ruhestätte völlig angemessen. John Copper weinte, und als die Wasseroberfläche sich über Samsons irdischen Überresten wieder schloss, verschwand der Kapitän in sein Quartier und ward für den Rest des Tages nicht mehr gesehen.
»Die Zeit hat sich verändert«, sagte Skip, »hast du das auch bemerkt?«
Das war später, nach dem Abendessen, als Skip, Tim und ich mit ausgestreckten Beinen nebeneinander beim Drachen saßen und uns eine Pfeife teilten.
»Was denn?«, fragte Tim.
»Wie lang ist es her, dass wir die Dracheninsel verlassen haben?«
»Zwei Wochen«, sagte Tim.
»Mach keinen Quatsch.«
»Es müssen schon – ich weiß nicht, ein paar Wochen sein.« Ich runzelte die Stirn. Ich hatte den Überblick verloren. »Mehr als zwei jedenfalls.«
»Mich dürft ihr nicht fragen«, erklärte Tim, »ich weiß nicht einmal, wo wir gerade sind. Es ist so heiß. Mir kommt alles gleich vor. Ich bin etwas leer im Kopf.«
»Viel mehr als zwei.«
»Das meine ich doch«, sagte Skip. »Die Zeit selber ist komisch geworden.«
»Scheißhitze«, sagte ich.
»Das ist das Stichwort.« Skip reichte mir die Pfeife.
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