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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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ein Auge auf ihn, erklärte er.
    »Wird er wieder gesund?«, fragte ich.
    »Ich denke doch.« Dan sah müde aus. »Ich muss einen Bericht schreiben. Wisst ihr, was er mir erzählt hat? Skip, meine ich?«
    »Was denn?«
    »Dass er mit dem Drachen einen Spaziergang auf Deck gemacht hat.«
    »Du lieber Gott.«
    »Bei Fuß, Polly-Hündchen«, sagte Tim und lachte.
    »Jungs«, sagte Dan, »macht euch keine Gedanken, ihr kommt immer noch gut weg bei der Sache. Wir haben doch nicht einmal geglaubt, dass wir ihn überhaupt finden würden. Ihr habt beide gute Arbeit geleistet, das werde ich betonen.«
    Dann schickte er uns los, den Käfig ausmisten. Die offene Tür und die Leere machten mich traurig. Im Stroh sah man noch den Abdruck eines langen, dicken Körpers und die abgeworfenen schwarzen Schuppen. Er war ein dreckiger Drache. Schiss einfach überallhin.
    »Das glaubt uns doch keiner«, sagte Tim und lachte. »Dass wir ihn tatsächlich gefangen haben. Niemand wird uns das jemals im Leben glauben.«
    »Doch, Jamrach«, sagte ich und bückte mich, um Skips Zeichenheft aufzusammeln. »Und Fledge auch. Er wird noch eine zweite Expedition losschicken.«
    »Glaubst du?« Tim stützte sich auf seinen Besen. »Fährst du dann mit?«
    »Ich hab drüber nachgedacht«, sagte ich und blätterte das Heft durch. Drachen, Dämonen, Gitterstäbe. »Je nachdem. Hängt davon ab, wie es zu Hause ist.«
    »Zu Hause«, wiederholte er verträumt. »Kommt mir vor wie ein Fantasiegebilde.«
     
    Ach, wär ich doch wieder in London zurück,
    Am Ratcliffe Highway jenseits der See . . .
     
    »Und wenn wir nun nie reich werden, du und ich«, sagte ich und ließ das Heft in meine Tasche gleiten. Es passte genau.
    Tim lachte. »Geld ist mir egal.« Er machte sich wieder ans Fegen. »Ich war fest überzeugt, dass ich sterben würde. Und ich schwor mir, wenn ich jemals von dieser verdammten Insel runter und wieder nach Hause käme, würde ich mir danach nie mehr etwas wünschen – Himmel, wie das stinkt! –, und das mache ich jetzt auch so. Ich fahre nicht mehr zur See, Jaff, aber du ganz bestimmt. Für mich ist das nichts. Ich bin jetzt ein Familienmensch. Ich werde nach Hause zurückkehren und für Jamrach arbeiten und meine liebe alte Mama glücklich machen.«
    »Immerhin«, sagte ich, »hast du ein paar tolle Geschichten.«
    Er schnaubte verächtlich. »Und niemand wird mir glauben –«
    »– dass wir auf einer Insel Drachen gesehen haben, die einen Artgenossen fraßen«, sagte ich.
    »Du kannst einfach mit Worten umgehen, Jaff.«
    »Wie weit ist der wohl geschwommen?«, grübelte ich laut.
    »Wahrscheinlich ziemlich weit«, antwortete Tim, »keine Ah
nung«, und dann seufzte er. »Der arme alte Skip. Sitzt da unten fest. Er kann doch nichts dafür, dass er verrückt ist.«
    Ich dachte an den Drachen im Meer, der heldenhaft gen Westen schwamm, zurück in seine Heimat. Ich sah vor mir, wie seine zähen, krummen Beine durchs Wasser liefen. Wie weit? Hunderte von Seemeilen. Inzwischen war er wahrscheinlich schon tot. All seine alte Kraft und Wildheit dahin. Er war einfach nur noch ein Ding, das sterblich ist. Ich hatte bei Jamrach den Tod erlebt. Es war immer dasselbe: ein Licht, das schwächer wurde, verlöschte. Der einzige Tote, den ich noch als Lebenden gekannt hatte, war Tims Vater, und dessen Tod kam mir jetzt so vor, als würde ein alter Stuhl, der jahrelang am selben Platz gestanden hatte, plötzlich weggeworfen.
    »Glaubst du, er ist tot?«, fragte ich.
    »Vielleicht.« Er schob mit dem Besen Dreckwasser über die Decksplanken. »Keine Ahnung.«
    Ich stellte mir gerne vor, wie er tagelang immer weiter nach Westen schwamm, hier und da auf einem kleinen Flecken Land Halt machte und Nahrung suchte, Fische fraß, weiter und immer weiter schwamm, bis er sich schließlich am Ufer seiner eigenen Insel hochhievte. Heimat.
    »Wir werden nie mehr einen Wal zu Gesicht bekommen«, sagte Dag Aarnasson.
    Neun Glasen, die Luft reglos und heiß, der Ozean irgendwie bekümmert.
    »Wieso sagst du das, Dag?«
    Er grinste. »Der Fluch des Drachen. Wird jedenfalls behauptet.«
    »Hier draußen würde ich alles glauben«, sagte ich. »Aber jetzt ist er ja weg.«
    »Stimmt allerdings.« John Copper war schweißgebadet. »Wie wärs's also, wenn wir das verdammte Ding nie mehr erwähnen?«
    Billy im Mastkorb brüllte laut. Der Kapitän schrie: »Alle Mann an Deck!« Ich hörte das Geräusch rennender Füße.
    Tim, der an meiner Schulter vorbei schaute,

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