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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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zerschmettert wurde. Wir torkelten an der Kombüsenwand entlang. Unter unseren Füßen herrschte Chaos.
    Der Großmast brach mit einem lauten Knall, gefällt wie ein Baum, wurde angehoben und wie ein Zweig vom Wind fortge
blasen. Oben auf dem stark geneigten Achterdeck hingen sie an den beiden letzten Fangbooten. Die reichen nicht, dachte ich. Dag war da mit Tim, der sich mit den Tauen abplagte; Rainey, dem das Blut übers Gesicht lief; der Kapitän mit erschlafften Gesichtszügen und düsteren Augen, der »Achtern! Achtern!« in den Wind brüllte. Simon schnitt die Lasching vom anderen Boot los. In ihrem gab es einen Wasserkanister, eine Muskete und einen Quadranten, in unserem ein Päckchen Schiffszwieback und ein Gefäß mit Bootsnägeln. Aus dem hinteren Niedergang tauchte Henry Cash, Hemd und Hose klatschnass, wie aus einer Unterwasserhöhle auf, hielt Joe Harpers Werkzeugkiste hoch und schüttelte sich das Wasser aus den Augen. Gabriel sprang von der Reling herunter und packte ihn beim Arm, um ihn hochzuziehen, aber Henry wollte wieder nach unten. Wir sahen, wie er tief Luft holte, genug für eine Minute oder so, sich das angeklatschte schwarze Haar aus der Stirn schob und heftig blinzelte. Er wirkte plötzlich sehr jung.
    Jemand schrie immer noch. Wer?
    »Mr Cash!« Raineys Stimme bellte durch den Lärm, »komm hoch, es reicht!« Und immer noch rief der Kapitän: »Achtern! Alle Mann nach achtern!«
    »Wo ist Sam?« Rainey sprang hinunter ins Wasser, »ist Skipton oben?«
    »Aye, Sir«, sagte Gabriel.
    »Sam!«, brüllte Rainey, »Sam Proffit!«
    Mit gehetztem Blick kam Yan mit den Kompassen aus dem Kompasshäuschen angerannt und schleuderte sie in unser Boot.
    »Cash!«, brüllten Offizier und Kapitän jetzt gemeinsam.
    Ich sah die Jungs an der stark geneigten Backbordseite stolpernd und taumelnd nach hinten kommen: Skip, Gott sei Dank von den Fesseln befreit, so dass er wie wir Übrigen eine Chance hatte; Abel Roper und Martin Hannah, Felix und Billy, Joe Harper, immer noch mit Simons Fiedel in der Hand. John Copper
watete durch das Treibgut aus Kombüsenabfällen und toten Ratten, die wie ein Schwarm neugieriger Fische über das Achterdeck glitten. Wer schrie da bloß immer noch? Wer war das? Die Kombüsenwand brach. Fässer rollten mit der Woge hinaus, tanzten lustig in die Freiheit oder spielten Kegeln auf Deck und scheuchten alle auseinander und schlugen Joes Beine unter ihm weg, so dass die arme Fiedel ein weiteres Mal hinfiel, Joe einen sehr nassen Salto über das Fass machte und mit dem Gesicht zuerst aufs Wasser knallte. Henry sagte etwas zu Gabriel und ging noch einmal nach unten.
    »Cash!«, heulte Mr Rainey hinaus ins Chaos. Ein irr blickender, blutüberströmter Mann.
    »Bleibt beim Boot, Jungs«, befahl Dan uns.
    Mit einem Knacks, kaum lauter als bei einem Stock, brach der Besanmast an seinem Fußende und fiel quer über die überflutete Luke. Der barfüßige Gabriel warf sich auf den Mast und begann, daran zu ziehen und zu zerren. Zuerst versuchte er, ihn anzuheben, dann, ihn wegzurollen, aber er rührte sich nicht. Der kräftige Martin Hannah, der immer noch vage lächelte, setzte sein ganzes Gewicht ein, und Skip sprang ihm bei, doch nichts konnte den Mast bewegen, und Henry kam nie wieder hoch. Das Meer schwappte über den Heckspiegel, ergoss sich über das Deck, gurgelte um die im Wasser verschwundenen Niedergänge, und im Herzen des Schiffs fand nun eine kolossale Verschiebung statt, als sämtliche drei- oder vierhundert Ölfässer sich, mit einem Lärm wie das Ende aller Tage, auf einmal in Bewegung setzten. Lärm: das Meer, der wilde Wind, die Stimmen unserer Mannschaft, als das zerbrechliche Stückchen Holz, auf dem wir lebten, wie am Rutschigen Pfahl auf dem Jahrmarkt herumrollte und der Himmel hochflog, als das Schiffschaukelschiff sich in die Höhe schwang.
    Doch es kam nicht mehr herunter.
    Die Spieren tauchten ins Wasser. Die Boote hüpften begie
rig. »Wir gehen unter!«, schrie John Copper von unten und trat schwimmend wild um sich. Tim packte mich, legte mir seine Arme um die Schultern. Wilson Pride fischte eine Axt aus der treibenden Suppe und hackte mit unbewegtem Gesicht auf die Spieren ein. Gabriel suchte watend nach der Fiedel. Dan schubste uns herum. Die ganze Welt brach auseinander.
    Teile des Schiffs tanzten davon. Henry Cash war unter Wasser. Henry Cash war tot. Gabriel weinte, watete umher, suchte nach Simons Fiedel.
    Tim hielt sich an mir fest, seine Augen glänzten,

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