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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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sauste an ihrer Schwester vorbei und wirbelte uns im Kreis herum. Die Decks kippten. Wie ein stürzender Berg klang die zweite Wasserhose, unten polterten Seemannskisten, Teller und Töpfe klirrten in der Kombüse, es heulte in der Takelage. Und kreuz und quer torkelten und fielen wir Jungs.
    Doch es war die Dritte, die uns das Genick brach. Während wir uns tapfer gegen die beiden Vorreiterinnen hielten, hatte sie Kräfte gesammelt und aus dem zornigen Himmel einen breiten Trichter geformt, der wie eine riesenhafte verletzte Lilienblüte aussah. Die beiden Ersten entfernten sich rasch und nahmen den Sturm mit sich. Zurück blieb eine plötzliche atemlose, taube Stille. Dann zuckte der Himmel, und da war sie, mit einer Kompaktheit, einem derart furchteinflößenden Ernst, dass uns das Blut in den Adern stockte.
    Ihr oberes Ende war wie eine Trompete oder ein Pfifferling,
ein Füllhorn, aus dem die zusammengeballten Wolken am Firmament wie Schaum herausquollen. Der Stiel war ein mächtiger Baumstamm, schiefergrau, durchzogen mit zitternden Blitzen, und sie stand auf einem dunkel schimmernden Meer.
    Es folgte der Schrei »Alle Fallen lösen«, doch dazu war keine Zeit mehr.
    Sie griff an. Vorher kam der Wind zurück, er brüllte. Wir hätten uns entfernen sollen. Wir änderten den Kurs, wendeten wie eine fliegende Fledermaus, aber die Wasserhose äffte uns nach, spielte Katz und Maus mit uns – wendete, wenn wir wendeten, änderte den Kurs, wenn wir es taten. Ich hätte schwören können, in dem Ding saß ein Gehirn. Aber diese Hosen machen so was auch ohne Hirn. Inzwischen weiß ich das. Ich habe mit vielen Seeleuten gesprochen, die alle genau dasselbe erlebt hatten oder jedenfalls fast dasselbe. Diese Hosen jagen einen. Wie sie das machen? Keine Ahnung, aber sie tun es. Doch damals wusste ich das nicht, und ihre hartnäckige, lauernde Verfolgung machte mir nicht nur ganz real große Angst. Mich packte eine irreale Furcht, als würde sich da in Wirklichkeit ein lebendiges Monster nähern.
    Was es natürlich auch war.
    Sie musste nur eine Seemeile hinter uns herjagen, und schon hatte sie uns eingeholt. Dann schlug sie zu. Ich flog aus mir selbst heraus. Eine Sekunde lang war alles unerklärlich still. Ich war kopflose Angst, körper- und hirnlos, ein Schaumflöckchen auf meinem Ärmel, eine herunterstürzende Spiere, ein feuriger Salamander, der eine Meereswelle schubst. Ich war all das, aber ich war nicht ich. Mein Ich war irgendwo da draußen verschwunden, träumte, was da geschah, und sah von Weitem zu. Trotzdem fühlte ich alles – den Schock der kalten, feuchten Luft, die in meine Kehle schnitt und mir die Lunge versengte, das wilde Klopfen eines in Panik geratenen Herzens in meiner Brust, das warme Meer, eine glänzende, riesenhafte zusammengerin
gelte Schlange, drachengrün, eine Zunge, die über die Reling leckte. Lärm brach über uns herein mit dem Meer. Ein entsetzlicher Schmerzensschrei, empört und kindisch. Wessen Schrei? Ein höllisches Brüllen, Schreien, Dinge, die wie Speere übers Deck flogen.
    Die Welt rollte hin und her, und ich rollte mit ihr, außer Atem, gepufft und gestoßen von den Holzaufbauten an Deck und den scharfen Vorsprüngen an der Trankesselanlage, die mein Knie zersplitterten, worauf ein rasendes Feuer in meine Brust schoss. Ich kippte weg, während die Welt um meinen Kopf kreiste, taumelte erneut, tastete um mich und klammerte mich an die Wetterreling.
    Wir hatten Schlagseite, lagen fast ganz auf der Seite, das Mittschiff unter Wasser. Ich sah Gabriel übers Ruder fliegen und Mr Rainey mit wedelnden Armen auf den Fersen rückwärtslaufen. Sein Gesicht war starr, die Mimik in Stein gehauen, doch in seinen Augen stand blankes Entsetzen. Ich sah Wilson Pride aus der Kombüsentür schwimmen, und ein Schwall Ratten schoss als zitternder schwarzer Strom an mir vorbei. Immer noch schrie jemand grauenhaft, ein erdolchendes Schreien, ein verwundetes Schreien. Wer? Ich schluckte einen Mund voll Wasser, es stieg mir in die Nase und brannte. Abel schlidderte auf dem oberen Deck vorbei und rief: »Die Boote! Die Boote!«, und ich hörte die Stimme des Kapitäns tief und laut wie ein Nebelhorn aus einer Gischtfontäne dröhnen. Eine Hand packte mich am Kragen und zog mich weg. »Los, schnell, Jaff!«, sagte Dan fröhlich, »gibt viel zu tun«, und er stieß mich vor sich her. Ich sah, wie eines unserer Fangboote weggetragen und ein anderes leck geschlagen, am Dollbord zu Kleinholz

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