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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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machte plötzlich ein erstauntes Gesicht. »Oh Gott, was nun?«, sagte er leise.
    Ich drehte mich um.
    Der dunkle Wolkenhimmel im Westen kochte und blähte sich. Aber an einer Stelle leuchtete er grell, und von dort streckte sich eine lange, weiße Schlange, anmutig schwingend, nach dem Ozean aus.
    »Was ist das?«
    »Eine Wasserhose«, sagte Dag.
    »Nach achtern!«, brüllte Rainey. »Alle Mann! Gabriel ans Ruder.«
    Ein gegabelter Blitz durchzuckte die Wolken.
    »Beeilt euch, beeilt euch.« Rainey scheuchte uns nach achtern. »Billy, runter mit dir!«
    Es kam näher, ein wunderschönes, wirbelndes Traumwesen, das mit wahnsinniger Geschwindigkeit über das Wasser tanzte.
    »Alle Rahsegel aufgeien! Aufgeien!«, rief der Kapitän.
    Seltsam, wenn man rennen und ziehen muss und eigentlich nichts anderes möchte als still zuschauen. Ich hatte schon viele Wunder erlebt, seit ich von zu Hause fortgegangen war, doch nichts kam dem hier gleich. Es sah aus, als würde dieses Ding auf uns zu rasen, dann aber kurz vor seinem Ziel stehen bleiben, um uns zu beobachten. Eine Art Wolke, die das Meer durch eine kreiselnde Säule aus leuchtendem Nebel aufzusaugen schien.
    »Wende. Großschot lösen –«, schrie Kapitän Proctor.
    Eine ungeheure Helligkeit am Himmel leuchtete wie Feuer hinter dem Ding.
    »Steh nicht rum und glotz, Mr Linver, los, schnell!«
    Wir kriegten das Schiff herum. Jetzt war die Wasserhose backbord. Ich konnte kurz hinschauen: An ihrem unteren Ende herrschte großer Aufruhr, ein Aufleuchten, als würde da ein
Geisterschiff fahren. Dann wurde das ganze Ding wieder zu einer silbernen Säule, die auf einem silbernen Sockel ruhte. Sie kletterte immer weiter am Himmel entlang, wie die Bohnenstange in jener alten Geschichte oder wie die Weltenesche, die Himmel und Erde verbindet. Wie groß war sie? Ich weiß es nicht. Monströs. Alles hier war monströs.
    »Fallen. Toppsegel los –«
    Dann kam eine Zweite, ebenfalls von Westen, eine perlmuttfarbene Säule, in der innen eine bleiche Wolke hochzusteigen schien, und dann eine Dritte, die, oben breit wie der Schalltrichter einer Trompete, zum Wasser hin spitz zulief und aussah wie ein graues Feuer. Diese beiden gesellten sich zu der Ersten. Die drei standen grandios – schwankend, geschmeidig, kreiselnd – auf unserer Leeseite. So wunderschön. Etwas derart Schönes hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. Ich würde fast behaupten, allein für diesen Anblick hat sich alles gelohnt. Zuerst tanzten sie einen erhabenen höfischen Tanz, drei biegsame junge Mädchen, die, kreiselnd und sich umeinander windend, vorrückten, zurückwichen, sich bogen und verneigten, sich vereinten und wieder trennten, in jeder Bewegung gewandt und elegant wie Nymphen oder Elfen und doch stärker als Herkules. Unterdessen rannten wir die ganze Zeit und holten die Bramsegel und die Topps ein, während die Mastbäume in dem immer heftigeren Sturm knirschten und knackten.
    »Das ist die Rache«, sagte Billy, »ganz klar.«
    »Wohl wahr«, bestätigte Felix weise.
    »Red keinen Scheiß«, sagte Tim. »Das ist ganz einfach Wetter.«
    Vorsichtig wendeten wir erneut. Der westliche Himmel, in dem es tobte und wühlte, bauschte sich schwarz. Von weit her kam das ferne Geräusch schrillen Gesangs. Kapitän Proctors Gesicht wirkte beunruhigt, und das beunruhigte wiederum mich. Blitze durchzuckten die Wolken. Mr Rainey brüllte laufend Be
fehle, wir flitzten wie Gespenster umher, alle paar Sekunden flammte der Himmel stumm auf und beleuchtete unsere Gesichter, absolut jeder sah zittrig und angespannt aus in dem geisterhaften Licht.
    Wir entfernten uns recht zügig, während der Tanz zu seinem Ende kam. Die drei Säulen verharrten einen Augenblick, vibrierten ganz leicht, als sammelten sie sich, und dann schlugen sie, eine nach der anderen, in perfekter Harmonie, einen weichen weiten Bogen und versammelten sich erneut an unserer Leeseite, wo die Jüngste – und zufällig auch die Geschmeidigste, Mädchenhafteste – sich ohne viel Federlesens aus der Gruppe löste und auf uns zu raste. Sie näherte sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit und mit Weltuntergangsbrüllen, drehte keine dreißig Meter vor unserem Heck erst bei und produzierte eine Welle, die uns wütend schaukelte und die Decks unter Wasser setzte. Der Wind riss uns herum. Die Segel donnerten. Ein großer gezackter Blitz durchbohrte den Westen. Wir kämpften mit dem Schiff, und während wir noch kämpften, kam die Zweite,

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