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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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halb vor Entsetzen, halb vor erregter Freude. Mr Rainey schlug mir kräftig auf den Hinterkopf. »Ins Boot«, sagte er. Ich hatte das Gefühl, mich langsam wie im Traum zu bewegen. Wieder ging ich aus, verlöschte nach und nach wie ein gestutzter Lampendocht. War nicht hier, war doch hier, aber abwesend. Dreh dich weg, Jaff. Tritt beiseite und sieh genau zu. Rette mich vor animalischer Angst. Nimm mir das Grauen.
    Niemand schrie mehr. Das Logis war unter Wasser. Das Schiff neigte sich. Es neigte sich ein unfassliches weiteres Stückchen. Dan und der Kapitän gaben Befehle, als stünde nichts weiter als ein Walausflug bevor, vernünftig, wahnsinnig im Angesicht des Wahnsinns, als wäre das alles normal, dieses Stöhnen des Achterdecks und wir, diese völlig durchweichte Meute. Und Henry Cash unter Deck, unter Wasser. Wir ließen uns hinunter und nahmen unsere Plätze ein. Das Zwischendeck war weg. Zwei Boote hatten wir noch, nicht genug. Wir hatten Rainey und Dan und Gabriel. Yan hielt ein Schwein im Arm. Unser Boot krängte, während wir forttrieben, das Meer schleuderte uns hoch und nieder, und der Wind gellte in unseren Ohren. Tim und ich saßen zusammen in der Mitte des Fangboots, und wir ruderten, weil Dan es uns befahl, ruderten wie der Teufel mit einer neuen wahnsinnigen Kraft, die uns in die Arme gefahren war.
    Wir schafften es wegzukommen und ruhten uns auf unseren Rudern aus und sahen zu, wie die Lysander vollständig umkippte und sich mit einer großen Fontäne und einem lauten Stöhnen auf die Seite legte und die Spitze vom Fockmast untertauchte.
     
    Unsere beiden Boote fanden wieder zusammen.
    Das Schiff hatte sich beruhigt – eine aus dem Ozean ragende Klippe, umgeben von einem immer breiteren Ring aus Treibgut. Sie waren jetzt weit weg, jene drei gewaltigen wirbelnden Wasser, und der Wind war eingeschlafen, wie in Ohnmacht gefallen. Eine Stille aus Meeresrauschen erfüllte die Welt. Niemand sagte etwas. Meine Augen waren voller Seewasser, ich blinzelte sie frei und blickte mich um. Dan hielt uns beide, hatte Tim und mir die Arme um die Schultern gelegt. »Oje, oje! Junge, Junge, oje, oje!«, flüsterte er. Ich sah Yans Gesicht, wild, mit funkelnden Augen und gebleckten Zähnen, sah Gabriels, leer, unbewegt, tränenüberströmt. Irgendwie hatte er immer noch Simons Fiedel, drückte sie wie ein Baby an seine breite Brust unter der zerfetzten Kleidung. Neben uns im anderen Boot sah ich den Kapitän, der sich am Dollbord festhielt, sah sein finster vorgeschobenes Kinn, und Wilson Pride, dessen große, traurige Augen ein Gefühl ausdrückten, das ich nicht deuten konnte. Dag Arnasson, John Copper, Simon Flower, Skip, alle gleichermaßen blöde verstummt angesichts der absoluten Unfassbarkeit von allem.
    Wo waren die anderen?
    Niemand erschien auf der hohen Klippe des Achterdecks. Nicht ein Einziger. Ich sah einen schwimmenden Kopf, aber es war nur eins unserer Schweine, das sich tapfer zu retten suchte und wie wild mit seinen Schweinsfüßen paddelte.
    »Simon!«, sagte Gabriel, »ich hab deine Fiedel.«
    »Danke.«
    »Hier, da hast du sie.«
    Reichte sie rüber, von einer Hand in die andere.
    »Billy!«, schrie Dag, stand auf und zeigte mit dem Finger. »Billy! Billy Stock!«
    Zwischen Spieren und treibenden Planken, zwischen hüpfenden Kanistern und vollgesogenen Segeln schwamm er, Billy Stock, durchpflügte das Wasser mit seinen stämmigen braunen Armen und kam zügig auf uns zu. Sein Kopf ging immer wieder unter. Alle griffen wir nach den Rudern, näherten uns, riefen ihn an, streckten unsere Arme aus, um ihn hereinzuziehen. Während sein Kopf unterging und wieder auftauchte, blickte er konzentriert auf etwas Unsichtbares, das sich wenige Zentimeter vor seinen Augen zu befinden schien. Er machte einfach weiter. Dan packte ihn, zog ihn hoch und legte ihn, gemeinsam mit Rainey, auf den Bootsboden, das Gesicht nach unten. Dann begannen beide, das Wasser aus ihm herauszupumpen, indem sie ihm auf den Rücken klopften.
    »Jetzt aber. Spuck es aus«, sagte Dan.
    Billy hustete und würgte.
    »So ist es richtig«, sagte Rainey.
    Er war so angestrengt geschwommen. Es war, als hätte er sich im Wasser vollkommen aufgezehrt, und jetzt, sicher im Boot, war nichts mehr von ihm übrig. Dan richtete ihn auf, er hustete und würgte und nieste Blut aus der Nase, dann glitt er Dan aus der Hand, kippte vornüber aufs Gesicht und in einen See aus dünnem, grünem Erbrochenen. Rainey hob ihn hoch, packte ihn bei den

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