Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
Vom Netzwerk:
Schweine. Der Kapitän befahl Tim und mir, aus dem, was wir von den alten Segeln retten konnten, neue zu nähen. Wilson Pride suchte zwischen den Takelageresten nach Spieren, während Simon, Dan und, eher ungeschickt, Kapitän Proctor persönlich sich an die Herstellung von Masten machten. Uns fehlte Joe. Yan schob Wache. Gabriel fischte nach Fässern mit Trinkwasser. Rainey ließ Skip Löcher ins Deck hacken, und er selbst ging mit Dag hinunter, und sie holten Kisten mit Zwieback hoch. Wir sprachen nicht über das, was geschehen war. Heißa! Jetzt war ein neuer Tag, und wir taten, was uns gesagt wurde. All unser Tabak war weg. Für eine schöne Pfeife hätte ich morden können, wie ich da saß und mir beim Nähen die Finger blutig stach. Bei dem Gedanken an lieblichen Rauch, diese schönste Sache der Welt, hätte ich weinen können. Auch der Himmel hatte die Farbe von Rauch, mit leuchtenden blauen Stellen in der Schwärze. Ich war in einem Zustand kindischer Verträumtheit. John Copper nähte ein schmales Leichentuch für Billy zusammen. Der Hagel war wieder zu leichtem Regen geworden, und ich war völlig aufgelöst: Ein Teil von mir war auf großer Abenteuerfahrt, ein anderer zitterte auf dem Meer wie Sonnenlicht, ein dritter arbeitete
an einem verhangenen Nachmittag mit den guten alten Kumpeln Crabbe und Bulter in Jamrachs Hof –
    – mein Gott, Crabbe und Bulter! Bei dem Gedanken an sie kamen mir die Tränen.
    »He, Tim«, sagte ich, »erinnerst du dich an Crabbe und Bulter?«
    Tim drehte den Kopf zu mir und lächelte. »Na klar. Crabbe und Bulter.«
    »Das waren noch Zeiten«, sagte ich.
    »Mensch, ja« –
    – für einen Teil von mir war immer noch gestern Abend, bevor ich vom Schiffsmast hinunterstieg, ein anderer Teil brütete über den Wassern. Meine unsichtbaren Kameraden schwatzten und bewegten sich in meinem Kopf ganz normal, als wäre nichts geschehen.
    »Wer sind Crabbe und Bulter?«, fragte John Copper.
    »Haben früher mit uns gearbeitet«, sagte Tim.
    Skip erschien.
    »Hallo Skip«, sagte ich, »ich hab dein Heft.«
    Drachen, Dämonen, geflügelte Augen, Gesichter in äußerster Not.
    »Danke«, sagte er.
    Ich gab es ihm.
    »Allerdings ohne Bleistift«, sagte er lächelnd.
    Und so ging der Tag dahin. Wir erhöhten die Bootswände um etwa dreißig Zentimeter, vorne und hinten noch mehr, und beluden sie so schwer, wie es uns verantwortbar schien. Der Schiffszwieback wurde in Segeltuch verpackt und so verstaut, dass keine Gischt darankam. Trinkwasser, zwei Fässer für jedes Boot.
    Mr Rainey und Simon wickelten Billy in das Leichentuch. Sie taten es sachlich, eine Aufgabe, die zu erledigen war. Simon hielt das Tuch, und Rainey legte ihn hinein, ihren Gesichtern war
nichts zu entnehmen. Dann hob Mr Rainey Billy hoch und legte ihn in unser Boot, und wir ruderten ein Stück aufs Meer hinaus, das Boot des Kapitäns folgte uns. Und als wir wieder zusammen waren, ließ gerade der Regen nach, und die Sonne machte Anstalten unterzugehen. Der Kapitän sagte:
    »Und jetzt überantworten wir, oh Herr, den Leichnam deines Dieners und unseres Kameraden, William Stock, dem Meer. Herr, nimm ihn zu dir und sei seiner Seele gnädig. Unser Vater, der du bist im Himmel –«
    – und wir fielen alle mit ein und murmelten das Vaterunser, und ich sagte stumm: Leb wohl, Billy, und musste wieder daran denken, wie er sich mit zornigen Tränen in den Eimer erbrochen hatte. Ein kurzes Schweigen, dann ließ Mr Rainey ihn ins Wasser gleiten, und das Meer verschluckte ihn.
    Das Ende des Schiffs war wie das Sterben eines Wals. Es blutete dickes gelbes Blut aus allen Ritzen, aus seinen toten Augen, aus seinem Herzen. Den gesamten Tran, den wir seit unserem Aufbruch aus London gekocht hatten. Er verteilte sich rings um uns auf dem Meer, und langsam und glänzend ging das Schiff darin unter.
    Fort.
    Ach, jener Augenblick. Um uns der Ozean, der Himmel über uns. Zu groß.
    Der Kapitän zog den Quadranten zu Rate. Rainey wechselte in sein Boot hinüber, und sie hielten unhörbar Kriegsrat. Scheinen nicht einer Meinung, dachte ich, aber schließlich kam Mr Rainey zurück, mit versteinertem Gesicht und auf der Lippe kauend. Der Kapitän hatte beschieden, dass wir ein paar Meilen in südöstliche Richtung fahren, dann für die Nacht beidrehen und am Morgen Bilanz ziehen würden. Endlich hatte der Regen aufgehört.
    Setzt die Segel, Männer.
    Mr Rainey war am Steuerruder. Der Kapitän hielt seine Mus
kete umklammert. Unsere

Weitere Kostenlose Bücher