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Der Atem der Welt

Der Atem der Welt

Titel: Der Atem der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol Birch
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provisorischen Masten funktionierten. Ich weiß nicht, wie weit wir segelten, jede Entfernung war möglich. Es herrschte schwarze Nacht, und nichts war wirklich. Irgendwann drehten wir bei, und ich fiel in einen durstigen Schlaf. Wir hatten ein wenig Wasser getrunken, bevor wir uns hinlegten, aber der Kapitän sagte, wir müssten sehr sparsam damit umgehen, uns aufs Schlimmste gefasst machen und das Beste hoffen. Mir war übel, und ich konnte den Zwieback nicht essen. Wir schliefen hungrig ein, sehnten uns verzweifelt nach Vergessen. Lange vorm Hellwerden wurde ich halb wach und ging im Geiste immer wieder eine Liste durch, war aber noch zu erschöpft, verlor ständig den Faden und musste wieder von vorn beginnen, und das ging ewig so weiter. Wer ist verschwunden? Sam Proffit. Mr Comeragh. Felix Duggan –
    Es kam mir wichtig vor, an jeden einzelnen dieser Menschen zu denken, sozusagen die Dinge aufzuzählen, die ich von ihnen wusste. Sam Proffit. Alter schwarzer Mann. Wässrige Augen. Klein. Mr Comeragh. Hat einen kleinen Sohn. Felix. Felix Duggan. Was weiß ich über ihn? Nichts. Runder Kopf. Schneidet Gesichter. Sam, Felix, die hab ich durch. Mr Comeragh. Billy – seine weißen Augen. Henry Cash. Glatter nasser Schädel, Schultern ragen aus dem Wasser, schiebt die Werkzeugkiste vor sich her. Was hätten wir ohne die Werkzeugkiste gemacht? Unser Retter. Weiß nichts über ihn, mochte ihn nie. Dachte, er wäre ein eingebildeter Scheißkerl. Glatter nasser Schädel, ein Otter, geht noch mal runter, um mehr zu holen, sieht jünger aus als vorher. Wer ist der Nächste? Joe. Joe Harper. Das Letzte, was ich von Joe sah, war, wie er mit dem Gesicht zuerst ins Wasser fiel, als das Fass ihm die Beine wegschlug. Er hatte Simons Fiedel gehalten, aber sie war ihm aus der Hand geflogen. Wo war er? Wo war Mr Comeragh? Wo waren Abel Roper und Felix Duggan und Martin Hannah? Im Geiste ging ich jeden verlorenen Mann immer wieder durch, als würde ich Schäfchen zählen, versuchte,
mich ihrer Existenz und der Unmöglichkeit ihres Endes zu vergewissern. Die endlose Frage, die blöde und unbeantwortbar ihren eigenen Schwanz jagte. Es war wie ein wahnsinnig machender Juckreiz: Wo sind sie?
    Ein Fangboot ist ein ausgeklügeltes Ding, acht Meter lang, schlank, vorn mit einem Schnabel und schnell. Unsere waren jetzt seltsame Mischwesen, trugen Masten und Segel, wofür sie nie gedacht waren, hatten höher gezogene Wände, einen zusammengeschusterten Bug und waren unverhältnismäßig stark beladen. Nichts geht über so ein Fangboot, wenn man durchs Wasser fliegen will, aber diese umgebauten Fahrzeuge waren schwerfällig. Wir segelten den ganzen Tag so lange mühselig gen Westen, bis die Sonne unterging. Der Mond stand im Osten.
    »Schon mal so was gesehen, Jungs?« Das war Dan. »Mondregenbogen. Regenbogen bei Nacht.«
    Der Mondregenbogen leuchtete am westlichen Horizont, wie auf Wolken gemalt. Unter dem Bogen war der Himmel blasser.
    »Wir wollen mal annehmen, dass er Rettung verheißt«, sagte Rainey in leicht sarkastischem Ton. »So wie Noahs Regenbogen.« Sein Gesicht war rot und hatte etwas Falkenhaftes. Das Blut hatte er weggewischt, und über seinem linken Knopfauge, aus dem es beständig auf die geschundene Haut sickerte, klebte ein grobes Pflaster.
    »Was nun, Dan?« Ich zupfte ihn wie ein Kleinkind am Ärmel. Meine Stimme klang hoch und erstickt. Die Brust tat mir weh, als müsste ich gleich weinen, aber nicht wegen der Situation, in der ich steckte. Es hatte etwas mit der Art zu tun, wie Dan den Arm um uns beide gelegt hatte, um Tim und mich, als wir ins Boot stiegen, und wie er sich überhaupt die ganze Zeit verhalten hatte, nämlich so, als gehörte das zur alltäglichen Arbeit, sei etwas, das immerzu passierte. »Keine Sorge, Jungs«, hatte er, ganz wie immer, gesagt, »hab schon Schlimmeres als das hier erlebt, glaubt mir. Keine Sorge, ich bring euch nach Hause.« Er
hatte uns sogar zugelächelt. Gelächelt. Als wäre alles in Ordnung. Er weckte seltsame Gefühle in mir, als ob er meine Mama wäre oder so – und erinnerte mich daran, wie sie in den längst vergangenen Tagen, als wir beide noch in Bermondsey wohnten, so liebevoll mit mir geredet hatte, wenn wieder mal hinter der Wand gekreischt und gebrüllt wurde. Hör dir die an, Jaffy, sagte sie dann, legte den Kopf schief und lächelte. Das Leben in seiner ganzen Pracht. Komm her, soll ich dir ein Lied vorsingen?
    Ja, ja, es sah schlimm aus, aber wir würden

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