Der Atem des Jägers
einen Wasserkocher, ein
kleines Radio. Die Liste wurde immer länger und ihr Kontostand immer niedriger, bis sie Arbeit als Kellnerin in einem großen
Coffee Shop in der Long Street fand. Sie nahm so viele Schichten an, wie sie konnte, solange sie noch die Ausbeulung unter
ihren Brüsten verbergen konnte.
Die Zahlen auf den Kontoauszügen beherrschten ihr Leben. Sie war von ihnen besessen. Sechs-acht-null war das erste Ziel jeden
Monat, die unverhandelbare Mietzahlung. Das war der Niedrigwasserstand ihrer Buchhaltung und der Grund für ihre unruhigen
Träume des Nachts. Sie entdeckte den Flohmarkt um Green Point Stadium und verhandelte den Preis jedes einzelnen Teiles. In
den Secondhand-Shops in Gardens und in der |113| Kloof Street kaufte sie eine Wiege, ein Fahrrad und einen rotblauen Teppich. Sie strich die Wiege auf dem Dach mit weißer
ökologischer Farbe, und als sie feststellte, daß sie Lack übrig hatte, verpaßte sie auch dem alten, gelb-grünen Rennrad mit
den schmalen Reifen und dem Rennradlenker ein paar Schichten.
In einer Ausgabe der
Cape Ads
, die jemand im Coffee Shop hatte liegenlassen, fand sie eine Anzeige für eine Baby-Rückentrage. Sie rief an, handelte den
Preis herunter und ließ die Trage liefern. Sie würde es ihr erlauben, mit dem Fahrrad, das Baby auf dem Rücken, am Berg oder
am Meer entlang nach Mouille Point zu radeln, dort gab es Schaukeln und Klettergerüste und sogar einen Kinderzug.
Jeden Samstag investierte sie zwanzig Rand, um Lotto zu spielen, und dann saß sie vor dem Radio und wartete auf die Gewinnzahlen,
die sie mit Kugelschreiber auf den Kärtchen markiert hatte. Sie träumte davon, was sie mit dem Jackpot machen würde: Ein Haus
stand ganz oben auf der Liste, eines dieser modernen Schlößchen am Hang des Berges, mit automatischen Garagentüren, persischen
Teppichen auf dem Boden, Kelims und Gemälden an den Wänden. Ein großes Kinderzimmer mit Möwen und Wolkenbildern an der Decke
und einem Berg leuchtendbunter Spielzeuge auf dem Boden. Ein Land Rover Discovery mit Kindersitz. Ein begehbarer Schrank voll
Designer-Labels, die Schuhe in ordentlichen Reihen am Boden. Eine Espressomaschine. Ein doppeltüriger Kühlschrank aus Edelstahl.
Eines Nachmittags gegen drei Uhr saß sie mit einem Becher Instantkaffee auf dem Dach, als sie den Klang von Sex aus einer
der Wohnungen unter sich heraufdriften hörte. Eine Frauenstimme, ah-ah-ah-ah, erklomm langsam die Stufen der Ekstase, jedes
Mal ein wenig höher, ein wenig lauter. In den ersten Minuten waren die Geräusche bedeutungslos, bloß Stadtlärm, aber dann
erkannte sie sie und lächelte, zu dieser ungewöhnlichen Zeit, über ihren Ohren-Voyeurismus. Sie fragte sich, ob sie die einzige
Zuhörerin war oder ob noch |114| andere die Rufe hörten. Sie verspürte eine leichte sexuelle Erregung in ihrem Körper. Gefolgt von Neid, als der Klang beschleunigte,
schneller, lauter, höher. Der Neid dehnte sich aus auf alles, was sie nicht hatte, bis der schrille Orgasmus sie aufstehen
und den Arm mit der fast leeren Kaffeetasse krümmen ließ, sie wollte sie gegen alles schmettern, was sich gegen sie verschworen
hatte. Sie zielte nicht auf irgend etwas Bestimmtes, ihre Wut war viel zu allgemein. Wut über die Einsamkeit, die Umstände,
die verpaßten Chancen.
Sie warf sie nicht. Sie ließ langsam den Arm sinken, sie wollte keine neue Tasse bezahlen müssen.
Anfang März konnte sie den Anruf nicht mehr länger vor sich her schieben. Sie fuhr bis zur Waterfront zu einer Telefonzelle,
nur falls sie den Anruf zurückverfolgten. Sie rief ihre Mutter in der Anwaltskanzlei an, wo sie arbeitete. Es war ein kurzes
Gespräch.
»Mein Gott, Christine, wo bist du?«
»Ich hab’s geschmissen, Mom. Es geht mir gut. Ich habe einen Job. Ich wollte bloß …«
»Wo bist du?« Die Stimme voll Hysterie. »Die Polizei sucht bereits nach dir. Dein Vater bekommt einen Herzanfall, er ruft
sie jeden Tag in Bloemfontein an.«
»Mom, sag ihnen, daß sie aufhören sollen. Sag ihm, daß ich seine Beterei und seine Religion satt habe. Ich bin nicht in Bloemfontein,
er wird mich nicht finden. Es geht mir gut. Ich bin glücklich. Laßt mich einfach allein. Ich bin kein Kind mehr.« Sie konnte
nicht sagen, woher die Wut kam. Hatte die Angst sie freigesetzt?
»Christine, das kannst du nicht machen. Du kennst deinen Vater. Er ist außer sich. Wir machen uns schreckliche Sorgen um dich.
Du bist unser Kind.
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