Der Atem des Jägers
Wo bist du?«
»Mom, ich lege jetzt auf. Mach dir keine Sorgen um mich, Mom. Es geht mir gut. Ich rufe dich wieder an.« Hinterher dachte
sie, sie hätte etwas sagen sollen wie: »Ich liebe dich, Mom.« Aber sie hatte einfach nur den Hörer aufgeknallt, war auf ihr
Fahrrad gestiegen und davongeradelt.
|115| Sie rief erst wieder an, als Sonia eine Woche alt war, Anfang Juni, denn da verspürte sie das große Bedürfnis, die Stimme
ihrer Mutter zu hören.
Thobela trank eine Coke an einem der Außentische des
Wimpys
in St. Georges. Er las den Aufmacher im
Argus
, in dem über den Tod Enver Davids’ spekuliert wurde. Die Sensationen wurden genährt durch den anonymen Anruf einer Frau.
Jemand hatte ihn mit dem Assegai gesehen. Aber nicht der Polizei gemeldet.
Er war zu konzentriert gewesen. Nein, er war nicht gründlich genug gewesen, hatte es nicht durchdacht. Es hatte einen Zeugen
gegeben. Er hätte wissen müssen, daß es Medieninteresse geben würde. Schlagzeilen, Spekulationen und Vorwürfe.
Könnte der Mord an Kinderschänder Enver Davids das Werk einer weiblichen Scharfrichterin gewesen sein – und nicht der South
African Police Services, wie vermutet wurde?
Eine eigenartige Konsequenz.
Konnte die Polizei die Anruferin aufspüren? Konnte sie ihn beschreiben? Es war im Grunde egal.
Er blätterte um.
Auf Seite drei befand sich ein Artikel über die Meinungsumfrage eines Radiosenders. Sollte man die Todesstrafe wieder einführen?
Siebenundachtzig Prozent der Zuhörer hatten mit ja gestimmt.
Auf Seite zwei ein kurzer Bericht über die Greueltaten des Tages. Drei Morde in Khayelitsha. Eine Bandenschießerei kostete
eine Frau in Blue Downs das Leben. Ein Mann war in Constantia bei einem Autoüberfall verwundet worden. Überfall auf einen
Geldtransporter in Montague Gardens, zwei Wachmänner auf der Intensivstation. Eine Zweiundsiebzigjährige war in ihrem Haus
in Rosebank vergewaltigt, zusammengeschlagen und beraubt worden. Ein Farmer in der Provinz Limpopo war in seinem Schuppen
niedergeschossen worden.
Heute keine Kinder.
Eine Kellnerin brachte ihm die Rechnung. Er faltete die |116| Zeitung und lehnte sich zurück. Er beobachtete die Leute, die zum Einkaufszentrum gingen, manche entschlossen, manche gelassen.
Es gab Stände, Kleidung, Bilder. Der Himmel war blau, eine Taube landete auf dem Bürgersteig, Schwanz und Schwingen weit gespreizt.
Es war ein Déjà-vu, all das, dieses Leben. Ein Hotelzimmer irgendwo, der Koffer nur halb ausgepackt, lange Tage, die zu ertragen
waren, Zeit, die man vergehen lassen mußte, bevor der nächste Auftrag kam. Er hatte in Paris gewartet, einer anderen Stadt
mit anderer Architektur, einer anderen Sprache, aber das Gefühl war gleich gewesen. Der einzige Unterschied war, daß seine
Opfer damals in einem grauen Büro in Ostberlin ausgewählt worden waren, und ein Kurier brachte ihm einen kleinen Stapel Unterlagen
mit Fotos und einzeilig beschriebenen Seiten. Das war sein Krieg. Sein Freiheitskampf.
Ein Leben lang her. Die Welt war anders damals, aber wie leicht es ihm doch fiel, die alten Gewohnheiten wieder anzunehmen
– die Aufmerksamkeit, die Geduld, die Vorbereitung, die Planung, die Vorfreude auf den nächsten großen Schub Adrenalin.
Da war er wieder. Zurück im Sattel. Der Kreis hatte sich geschlossen. Er hatte das Gefühl, als hätte es die Zeit dazwischen
nie gegeben, als wären Miriam und Pakamile ein Traum, wie ein Werbespot mitten in einem Fernsehkrimi, ein verstörender Blick
auf häuslichen Frieden.
Er bezahlte für sein Getränk und ging Richtung Süden zu den Telefonzellen, dann wählte er die Nummer erneut. »Ist Professor
Ackerman jetzt zu sprechen?«
»Einen Moment.«
Sie stellte ihn durch. Er nannte erneut den falschen Namen und behauptete, er sei freiberuflicher Journalist. Er sagte, er
habe im Archiv von
Die Burger
einen Artikel gelesen, in dem der Professor erklärte, daß ein diagnostizierter Pädophiler stets erneut tätig werden würde.
Er wollte verstehen, was das bedeutete.
Der Professor seufzte und schwieg einen Moment, bevor er |117| antwortete. »Nun, das bedeutet genau das, was es sagt, Mr. Nulwazi.«
»Nzululwazi.«
»Tut mir leid, Namen kann ich mir nicht gut merken. Es bedeutet, korrekt formuliert, daß die Rehabilitation, statistisch betrachtet,
im Grunde nicht funktioniert. Nachdem die Strafe abgesessen ist, gibt es keine Garantie, daß diese Leute dasselbe Verbrechen
nicht
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