Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
im Mittelmeerraum habe die alten Handelsrouten blockiert und die Wikinger zu dem Versuch veranlasst, neue zu erschließen. Wieder andere sind überzeugt, dass auch das Klima eine Rolle gespielt habe: In der Zeit zwischen 800 und 1300 sei es auf der Nordhalbkugel zu einer allgemeinen Erwärmung gekommen, die auch die Temperatur der Meere um ein Grad oder mehr habe ansteigen lassen; das wiederum habe zum Schmelzen der Eisflächen in vielen der von den Wikingern genutzten Fjorde geführt und es ihnen leichter gemacht, von dort aus in See zu stechen. Und wiederum andere behaupten unter Verweis auf die Grabstätten an den Küsten des Atlantiks, in denen männliche Wikinger neben eindeutig aus der jeweiligen Gegend stammenden Frauen beigesetzt sind, dass die Seefahrer aufgebrochen waren, um sich in der Fremde Frauen zu suchen und mit diesen das genetische Material ihres Volks oder Stamms aufzufrischen.
Welches auch immer der Grund war, den erwähnten Überfällen folgten drei Jahrhunderte, in denen die Wikinger sich territorial immer weiter ausbreiteten, was den östlichen und nördlichen Atlantik zu Regionen machte, in denen jederzeit Unvorhergesehenes geschehen konnte – und zwar äußerst Unangenehmes. Ganze Flottillen von Langbooten machten sich von den Siedlungen am Atlantik aus auf den Weg und durchpflügten die Wogen bis hin zu solch entfernten Orten wie Archangelsk im Norden Russlands, zu den verschiedenen Häfen an der Ostsee, den Inseln vor der irischen Westküste oder den Küsten von Frankreich und Spanien. Sie fuhren durch das ganze Mittelmeer, am heutigen Istanbul und an Anatolien vorbei bis ins Schwarze Meer und zu den Städten der südlichen Ukraine.
Die Langboote waren auch flach genug, um von der See aus die in diese mündenden europäischen Flüsse hinaufzusegeln. Ragnar Lodbrok führte hundertzwanzig Langboote und fünftausend Mann die Seine hinauf, griff Paris an und eroberte es. Er verkündete, nie ein so fruchtbares Land gesehen und so feige Einwohner kennengelernt zu haben, und weigerte sich, wieder abzuziehen, bevor König Karl der Kahle sich von drei Tonnen Gold und Silber getrennt hatte. Bald danach eilten Langboote die Liffey hinauf, und Dublin wurde zu einem longphort . Auch ein gutes Stück Loire aufwärts legten die Wikinger einen Stützpunkt an, was es ihnen ermöglichte, Städte in Nordspanien zu überfallen. Sevilla erlebte ihre Grausamkeit, in der Zeit danach widerfuhr Nantes, Utrecht, Hamburg, Bordeaux und anderen Städten Ähnliches. Wenn man noch hinzunimmt, dass die Wikinger in Irland, Grönland, Labrador und Neufundland das Sagen hatten, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass diese Krieger mit ihren Langbooten zu ihren besten Zeiten eine ähnliche hegemonische Herrschaft über den Nordatlantik innehatten wie die US-Navy in unserer Zeit.
Doch wie es bei allen imperialistischen Unternehmungen der Fall ist, nahmen auch die Macht und der Einfluss der Wikinger allmählich ab. Ihre Hochzeit erlebten sie – zumindest in England – unter König Knut, der nicht nur den englischen Thron an sich brachte, sondern ihn auch mit dem dänischen vereinte, womit er die beiden Länder für kurze Zeit unter Wikingerherrschaft zusammenschloss. Doch 1066, nur dreißig Jahre nach dem Tod Knuts, war die Herrschaft der Wikinger in England so gut wie beendet. Die Normannen – die in jenem Teil Frankreichs ansässig waren, der nicht lange zuvor noch von den Männern aus dem hohen Norden kontrolliert worden war – überquerten den Ärmelkanal und schlugen den angelsächsischen König Harold, der nur wenige Wochen zuvor die letzten Wikinger aus dem Norden der Britischen Inseln vertrieben hatte.
Die See muss im Herbst des Jahres 1066 besonders viele Grausamkeiten erlebt haben. Zuerst traf im Norden Englands eine Invasionsflotte aus Norwegen ein, die König Harold zurückschlagen musste, dann nahm eine zweite Flotte dieser Art von Frankreich aus Kurs auf die Südküste des Landes. Harold war es gelungen, den Wikingern in der Schlacht von Stamford Bridge eine vernichtende Niederlage beizubringen: Von den dreihundert Langbooten, die von Norwegen im Zug des Invasionsversuchs herübergeschickt worden waren, wurden nur noch dreißig benötigt, um die kleine Schar der Überlebenden und Verwundeten zurück in die Heimat zu befördern. Doch dieser Sieg hatte den englischen König ausgelaugt und geschwächt, und als die Flotte der Normannen einen Monat später auf die Küste von Kent zuhielt, vermochte er ihr
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