Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
bildeten.
Diese Streitmacht war jedoch völlig unerprobt; ihre Feuertaufe stand erst noch bevor, denn dem Sieg über Napoleon und seinem Tod (auf der im mittleren Atlantik gelegenen Insel St. Helena) hatte sich ein Jahrhundert des Friedens oder Beinahefriedens angeschlossen, in dem kaum einmal von einem Schiff der Royal Navy ein Schuss in kriegerischer Absicht abgefeuert worden war. Was sie wert waren, mussten die Seeleute und ihre dreadnoughts, 40 wie die gigantischsten der Panzerschiffe Fishers genannt wurden, erstmals im Frühsommer 1916 in den kühlen Gewässern der Nordsee, achtzig Meilen vom westlichen Zugang zwischen Norwegen und Dänemark, dem Skagerrak, unter Beweis stellen.
Die britische Grand Fleet, die von Scapa Flow nach Osten gesandt worden, und die deutsche Hochseeflotte, die – genau wie die britische mit einer aus Schlachtkreuzern bestehenden Vorhut – von Wilhelmshaven aus nach Norden gedampft war, fügten einander die entsetzlichsten Verluste zu; ein Schiff nach dem anderen wurde zusammengeschossen, mehrere sanken oder flogen in die Luft, und Tausende Seeleute verloren auf grässlichste Weise ihr Leben. Insgesamt waren es zweihundertfünfzig stählerne Schiffe, die einander mit Explosivgeschossen beharkten – achtundzwanzig Schlachtschiffe auf britischer und sechzehn auf deutscher Seite, dazu alle möglichen kleineren Einheiten. Beide Parteien waren erstaunt darüber, Großkampfschiffe einzubüßen, die – wie die Titanic , der große Passagierdampfer der White Line, der vier Jahre zuvor untergegangen war – als »unsinkbar« und unbezwingbar galten. In den ersten Stunden der Schlacht verloren die Briten die Queen Mary und die Indefatigable ; die beiden riesigen Schlachtkreuzer wurden von Explosionen zerfetzt, als deutsche Granaten in ihre Munitionsbunker einschlugen. Die Deutschen büßten elf Schiffe, die Briten vierzehn Schiffe mit einer mehr als doppelt so großen Tonnage ein. Sechstausend britische Seeleute verloren ihr Leben und zweitausend deutsche. Rein von den Zahlen her sah es also so aus, als ob der Kaiser gewonnen hätte.
Und dies, obwohl es die Royal Navy geschickt verstanden hatte, das »T zu kreuzen« – eine moderne Variante des klassischen Manövers, das darin resultierte, dass die deutschen Admiräle plötzlich die ganze Grand Fleet quer vor dem Bug ihrer Schiffe vorbeiziehen sahen, so dass die Briten mit ihren Zwölf- und Fünfzehn-Inch-Kanonen nach Belieben Breitseiten in den Gegner feuern und diesen dezimieren konnten.
Doch ließ sich die deutsche Flotte nicht niederringen: Ein ganzer Katalog von Fehlern und Mängeln – missverstandene Signale, ungenügende Zielgenauigkeit der Artillerie und auch die unvorteilhafte Konstruktionsweise mancher Schiffe – verhinderte, dass die Briten der Hochseeflotte den Todesstoß versetzten, obwohl ihre Kommandanten ihn verzweifelt herbeizuführen versuchten. Und trotz des ganzen Blutvergießens und der Verluste an Schiffen konnte man bei einer nüchternen Analyse nach dem Ende der Schlacht, als die Flotten wieder in ihre Heimathäfen zurückgekehrt waren, nur zu dem Schluss kommen, dass für den Rest des Krieges Untersee- und Torpedoboote wie auch Flugzeuge die dominierenden Kriegswerkzeuge sein würden. Seeschlachten zwischen großen Flotten, bei denen Admiräle der alten Schule versuchten, in einer Ära technologisch fortschrittlicher Schiffe etwas mit Kampftaktiken wie bei Trafalgar auszurichten, sollten bald der Vergangenheit angehören. Schon im nächsten Krieg, dem Zweiten Weltkrieg, spielten bei Auseinandersetzungen auf dem Meer von Trägern gestartete Flugzeuge die entscheidende Rolle. Zwei Jahre nach der Skagerrakschlacht strich die gesamte deutsche Hochseeflotte die Flagge – was keine direkte Folge dieser Schlacht, sondern im Wesentlichen darauf zurückzuführen war, dass die deutsche Wirtschaft aufgrund einer von den Alliierten durchgeführten Blockade der deutschen Häfen am Boden lag und das deutsche Heer an der Westfront zusammenbrach, so dass dem Deutschen Reich nur die Kapitulation blieb. »Seiner Majestät Schiffe« wurden in Scapa Flow interniert, von wo aus die Grand Fleet zum Skagerrak aufgebrochen war. Nach dem Waffenstillstand vom November 1918 lagen dort vierundsiebzig von Notbesatzungen bemannte Schiffe an der Ankerkette, die Kanonen unbrauchbar gemacht, die Munition konfisziert. Alle warteten auf das Ende und die Ergebnisse der nur mühsam voranschreitenden Friedensverhandlungen in Versailles.
Doch dann,
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