Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
Kordit bekannten rauchlosen Explosivstoffs, um die aufgetauchten U-Boote unter Beschuss nehmen zu können.
    Zur Herstellung von Kordit sind Nitroglyzerin und Schießbaumwolle, Azeton und Vaseline nötig, und der Vorrat daran war 1915 in Großbritannien begrenzt, weil man im Land selbst nicht genügend von einer dieser Komponenten, von Azeton nämlich, herzustellen vermochte.
    Im Frühsommer 1916 nahm der Herausgeber des Manchester Guardian , C. P. Scott, »zufällig den Lunch mit einem weißrussischen Emigranten und Professor für Naturwissenschaften an der Universität Manchester, einem onkelhaft wirkenden Mann mittleren Alters namens Chaim Weizmann, ein«. Beim Kaffee nach dem Essen erwähnte Weizmann Scott gegenüber, dass er eine neue Methode entwickelt habe, mithilfe von Bakterien Azeton in beliebig großer Menge herzustellen. In der Woche darauf erzählte Scott, der um die Probleme der Navy wusste, dies – wiederum beim Lunch – einem seiner Freunde, dem späteren Premierminister David Lloyd George weiter, der damals dem Ministry of Munitions vorstand. Weizmann wurde umgehend nach London gerufen. Man stellte ihm dort in einem großen Labor alles zur Verfügung, was er für seine Forschungsarbeit brauchte, und drückte ihm schließlich die Schlüssel zu Nicholson’s Gin Distillery im Osten der Stadt in die Hand, welche die Produktion von Hochprozentigem eingestellt hatte. Dafür konnte Weizmann in den Gebäuden jetzt seine neuen Techniken einsetzen, um die so dringend benötigte Chemikalie zu produzieren. Alles, was er benötigte, um den Produktionsprozess in Gang zu setzen, erklärte er, sei ein ansehnlicher Vorrat an Zellulose – etwas, das man in ausreichender Menge aus Mais oder, wie er hinzufügte, sogar aus Kastanien gewinnen könne.
    In jenem Herbst wurden Schulkinder in ganz England zum Kastaniensammeln aufgefordert. Tausende Tonnen von ihnen wurden in die ehemalige Gin-Destille gebracht und in die Wannen, Kessel und Destillierapparate geworfen. Innerhalb weniger Tage begann reines Azeton erst tröpfchenweise in die Glasballons zu rinnen, dann zu fließen und am Ende geradezu zu strömen. Lange Tankzüge transportierten das Azeton zu der geheimen Korditfertigungsstätte, die die Navy an der Küste von Dorset eingerichtet hatte, und es dauerte nicht lange, bis die klebrige, höchst explosive Masse an die Marinestützpunkte geliefert werden konnte. Aus den Schiffsgeschützen wurden wieder Granaten abgefeuert, und im Kampf gegen die deutschen U-Boote begann sich das Blatt langsam, aber stetig zugunsten Großbritanniens zu wenden.
    Diese Geschichte von Weizmann und seiner Erfindung ist seitdem oft ausgeschmückt und auf faszinierende Weise weitergesponnen worden. Ein häufig wiederholtes »Garn« beginnt damit, dass man in britischen Regierungskreisen meinte, Chaim Weizmann müsse eine offizielle Ehrung dafür zuteilwerden, dass er so entscheidend dazu beigetragen habe, dem Krieg auf dem Atlantik eine Wende zu geben. Lloyd George, inzwischen Premierminister, forderte, dass man seinen Außenminister Arthur Balfour bitten solle, dies Weizmann vorzuschlagen, der schließlich kein Brite, sondern Weißrusse war. Außerdem war er aber auch der Vorsitzende der British Zionist League und ein führender Aktivist innerhalb der weltweiten zionistischen Bewegung, deren Ziel es war, den Juden zu einem eigenen Staat zu verhelfen.
    Es heißt, Weizmann sei höchst erfreut über das positive Ergebnis seiner chemischen Experimente gewesen, habe aber keine offizielle Anerkennung durch die Briten gewünscht. In einer vom israelischen Außenministerium verbreiteten Version der Geschichte wird das, was daraufhin geschah, wie folgt dargestellt:
    »Weizmanns [Leistungen] öffneten ihm Türen in britischen Regierungskreisen, innerhalb derer er sich weiterhin als beredter Fürsprecher für den Zionismus betätigte. […] Lord Balfour gab den trockenen Kommentar ab: ›Dr. Weizmann konnte einen Vogel bezirzen, von seinem Baum herunterzukommen.‹
    Als Lloyd George, damals Munitionsminister, zum Premierminister ernannt und Arthur Balfour Außenminister wurde, wirkten sich Jahre beharrlicher Überzeugungsarbeit und die ›Empfänglichmachung‹ für den Zionismus maßgeblich auf die Entscheidung Großbritanniens aus, die Balfour-Erklärung herauszugeben. Ein seltenes Zusammentreffen britischer und jüdischer strategischer Interessen, im Verein mit persönlicher Empathie für Dr. Weizmann und seine Sache – Frucht achtjähriger, wie

Weitere Kostenlose Bücher