Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
der Männer und Frauen von Bord der 1838 in einem Sturm bei den Farne Islands in der Nordsee in Seenot geratenen Forfarshire durch eine mutige Frau mit dem wunderbar treffenden Namen Grace Darling in einem Ruderboot – bleiben in Erinnerung, weil sie Beispiele für außerordentlichen Heroismus liefern. Andere Ereignisse wie die Auffindung der Zweimastbrigg Mary Celeste , die sechshundert Meilen westlich von Portugal ohne eine lebende Seele an Bord unbeirrt in Richtung Gibraltar segelte, geraten nicht in Vergessenheit, weil sie so geheimnisumwittert und in diesem besonderen Fall auf eine Vielzahl von Ursachen, allesamt schaurig, zurückgeführt worden sind: auf Mord, Tod durch Vergiftung, ein Seeungeheuer, einen Tsunami. Und dann gab es da noch die Teignmouth Electron , den winzigen Katamaran, auf dem der britische Amateur Donald Crowhurst an einer Regatta rund um die Welt für Einhandsegler teilnahm. Er hatte geschummelt, festgestellt, dass er vermutlich als Erster ans Ziel gelangen und einer genauesten Untersuchung unterzogen werden würde; daher war er von seinem Boot gesprungen, um nicht des Betrugs überführt zu werden. Es ist eine Geschichte, die einen verfolgt: das Porträt eines Mannes, der in der unendlichen Einsamkeit eines großen Ozeans verrückt geworden ist.
Die Riesenhaftigkeit und die Unerschütterlichkeit des Meeres können einen Segler in seiner erzwungenen Einsamkeit mit Sicherheit in den Wahn treiben. In einem anderen können sie aber auch Ambitionen wach werden lassen, das Verlangen, kühne Visionen zu verwirklichen oder ein großes Vermögen zu machen. Doch man muss in jedem Fall davon ausgehen, dass ein so großes Meer wie der Atlantik ein nicht geringes Maß an Respekt und Ehrfurcht auslöst. Wenn die Menschheit anfängt, das Meer mit weniger Respekt zu behandeln, dann ist irgendetwas Unheilvolles im Gang. Einem Ozean darf man keine Geringschätzung entgegenbringen, doch aufgrund der Mühelosigkeit und der Geschwindigkeit, mit der er heutzutage überquert wird, wächst die Versuchung, genau das zu tun. Das hat millionenfache schlimme Folgen.
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Wandel und Verfall überall
Das sechste Alter
Macht den besockten, hagern Pantalon,
Brill’ auf der Nase, Beutel an der Seite;
Die jugendliche Hose, wohl geschont,
’ne Welt zu weit für die verschrumpften Lenden;
Die tiefe Männerstimme, umgewandelt
Zum kindischen Diskante, pfeift und quäkt
In seinem Ton.
1. Über den Großen Teich
I m internationalen Operationszentrum von British Airways, das die gesamte zweite Etage eines nur ganz diskret als solchen gekennzeichneten, im Höchstmaß gesicherten Gebäudes mitten auf einer leeren Moorfläche fünf Meilen westlich vom Londoner Flughafen Heathrow einnimmt, beharren die Angestellten darauf, jeden Transozeanflug als eine »Mission« zu bezeichnen. Zum Teil tun sie das aus Gründen der Tradition, doch auch um daran zu erinnern, dass ebenso wie an den heutigen Erkundungsflügen ins All und an den Expeditionen des 19. Jahrhunderts ins gottlose Innere vieler ferner Länder niemals etwas Routinemäßiges an dem ist, was sie in Erfüllung ihrer Aufgabe tun; dass es keine Sicherheit oder Gewissheit gibt, was den Erfolg ihrer Anstrengungen betrifft, die in diesem Fall darin bestehen, ein zweihundert und mehr Tonnen schweres Flugzeug sowie dreihundert und mehr Menschen der Schwerkraft trotzend in die Höhe von sieben und mehr Meilen zu heben und dann alles und alle ohne Unterbrechung viele Stunden lang über eine kalte und höchst gefährliche, immense Wasserfläche hinweg zu befördern.
Flugreisen über Ozeane sind in den vergangenen Jahren für die meisten Passagiere, aber nicht notwendigerweise für all die Personen, die aktiv an ihrer Realisierung beteiligt sind, ebenso alltäglich wie langweilig geworden. Dass sie heute relativ preiswert sind, hat Stippvisiten in ferne Länder für weite Kreise der Gesellschaft in den Bereich des Vorstellbaren gerückt. Der Atlantik, der zwar riesig, aber dennoch von einer Dimension ist, die es den meisten heute ermöglicht, ihn auf dem Luftweg ohne allzu großen Zeitverlust oder zu große Anstrengung zu überqueren, stellt gegenwärtig für Millionen Menschen eine Art Korridor dar, der zu den exotischsten Regionen führt. Der Pazifik ist zu groß dafür, der Indische Ozean für die Mehrzahl zu weit entfernt. Einwohner von Manchester, die noch in den 1970er Jahren Marbella als verlockend fremdartig betrachtet haben mögen, sehen heute Florida als mögliches Ziel für
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