Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
einen Wochenendurlaub an. Pariser fliegen über den Atlantik, beinahe ohne einen Gedanken an ihn zu verschwenden, um sich auf Martinique von der Sonne bräunen zu lassen. Angeödete brasilianische Großstädter machen sich auf, um sich die Giraffen und Antilopen in der Nähe von Kapstadt anzuschauen. Belgier strömen auf der Suche nach Sonne scharenweise nach Cancún. Texaner gehen auf Reise, um Theateraufführungen in London zu besuchen, und Norweger brechen nach Südwesten auf, um die Skihänge bei Bariloche zu testen. Die vielen Flugzeuge, die diese Touristen befördern, haben – im Verein mit den Fracht- und Kurierflugzeugen, den offiziellen Regierungsmaschinen auf Routine- und den Militärmaschinen auf Geheimmission – bewirkt, dass über dem Atlantik ein viel stärkerer Flugverkehr herrscht als über jedem anderen Meer.
Die Karten, auf denen die Flugrouten verzeichnet sind, belegen dies in alarmierender Weise. Sie zeigen zwei große, sich aus vielen Einzellinien zusammensetzende Pinselstriche, die zwischen dem Nordosten Amerikas und dem Nordwesten Europas hin und her laufen. Dort, wo die einzelnen Linien unmittelbar südlich von Irland zusammentreffen, erreichen sie eine solche Konzentration, dass sich eine Straße aus gelben Pflastersteinen über den Himmel zu ziehen scheint. Südlich von diesem dichten nördlichen Superhighway erstrecken sich feinere, eher an filigrane Spinnweben gemahnende Bänder von einem Kontinent zum anderen, die ehemalige Besitzungen mit früheren Kolonialländern verbinden – Mexiko mit Madrid, Kingston mit London, sogar (wenn man die Begriffe »Besitzung« und »Kolonialmacht« weiter fasst) Havanna mit Moskau –, während man noch weiter südlich wieder auf einen dicken Strang der wichtigsten Nord-Süd-Routen stößt, die beinahe eine ebensolche Konzentration erreichen wie die von Osten nach Westen verlaufenden und die großen und immer noch wachsenden Städte an der dem Atlantik zugewandten Seite Südamerikas mit den Haupthandelspartnern, alten wie neuen, verbinden: Rio mit Lissabon natürlich, aber auch mit Frankfurt, Moskau und Mailand, und Buenos Aires mit Barcelona selbstverständlich, aber auch mit Stockholm, Birmingham und Istanbul. Und dann sind da noch, über den Südatlantik hinwegführend, die halb vergessenen langen Flugstrecken zwischen weniger bekannten Paarungen von Städten eingetragen: zwischen Rio de Janeiro, Quito und Johannesburg, Santiago und Kapstadt, Brasilia und Luanda. Mehr als dreizehnhundert Flugzeuge sind jeden Tag im Luftraum über dem Atlantik unterwegs, und diese Zahl wächst kontinuierlich um ungefähr fünf Prozent im Jahr. Bei Weitem die meisten Maschinen fliegen über den nördlichen Teil des Meeres, das von seiner Silhouette auf der Landkarte her einem Stundenglas gleicht – 414000 Flugzeuge meldeten sich zum Beispiel während des Kalenderjahres 2006 bei den größeren Flugleitwarten im Norden. Wenn man die Maschinen hinzunimmt, die vom Südatlantik in den nördlichen Teil und wieder zurückfliegen, sowie die relativ wenigen, die von Orten in Südamerika aus Ziele in Afrika anfliegen und von dort wieder zurückkehren und dabei über die einsame Wasserwüste südlich vom Wendekreis des Steinbocks hinweggleiten, dann kommt man auf eine Gesamtzahl von ungefähr 475000 Transatlantikflügen im Jahr oder zirka 1301 am Tag.
Diese Flüge finden in zwei großen Wellen statt, die, wenn man die Radaraufzeichnungen im Zeitraffertempo ablaufen lässt, Fontänen von geschmolzenem Gold auf dem Schirm entstehen lassen, die über das Meer von einem Kontinent zum anderen sprühen. Zuerst machen sich die Flugzeuge mit Zielen im Westen auf den Weg, die vergeblich die Sonne einzuholen versuchen, indem sie sich – im Allgemeinen – tagsüber auf die Reise begeben, im Unterschied zu denen, die nach Osten in Richtung der Alten Welt fliegen. Diese heben im Dunkeln von amerikanischem Boden ab und landen früh am Morgen in Europa. Zu jeder Tages- und Nachtstunde sind vielleicht an die fünfzig dieser Flugzeuge über dem Meer unterwegs – was bedeutet, dass zehntausend Menschen stündlich über es hinweg befördert werden, lesend, schlafend, essend, Filme anschauend, schreibend – sieben Meilen hoch im Himmel.
Und von den Bewohnern dieser fliegenden kleinen Städte werden nur wenige es der Mühe wert finden, für länger als einen flüchtigen Augenblick nach unten zu schauen, auf die gekräuselte Oberfläche des Meeres oder die dichte Decke von grau-weißen
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