Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
länger die Fahrt dauerte – und bei Wind und starkem Seegang vermochten die Passagiere auf den unteren Decks sich nur dadurch aufzumuntern, dass sie sich gegenseitig immer wieder etwas von den Wundern vorschwärmten, die im Gelobten Land auf sie warteten.
Von den zahllosen Berichten über die Reisen von Auswanderern ist vielleicht die von Robert Louis Stevenson, der 1879 als Passagier einer schäbigen Zwischendeckklasse von Glasgow nach New York fuhr, der berühmteste und erhellendste. Stevensons Familie war entsetzt über diesen Text und versuchte, seine Publikation so lange wie möglich hinauszuzögern, am Ende wurde The Amateur Emigrant aber doch veröffentlicht – 1895, ein Jahr nach dem Tod des Verfassers. Es war eine so anschauliche Schilderung des Elends der Emigranten, dass man sie kaum glauben mochte. Zu dem Ereignis, das noch mehr Licht auf die Situation dieser Menschen warf, kam es siebzehn Jahre später, im April 1912 nämlich, als die RMS Titanic unterging.
Während die zahlungskräftigen Passagiere in Luxuskabinen untergebracht waren und während der Fahrt rundum verwöhnt wurden, waren die Auswanderer, die meist den ärmsten Bevölkerungsschichten angehörten, in den lichtlosen und stickigen Rumpf verbannt. Nur gelegentlich erlaubte man ihnen, ans Oberdeck zu kommen, um sich Bewegung zu machen und frische Luft zu schnappen.
Denn die Geschichte dieser Tragödie legte vor allem auch eine bittere Realität offen: dass das Leben der vielen irgendwo weit unten im Rumpf Mitreisenden – von denen die meisten noch nicht einmal wussten, wo sich die Rettungsboote befanden – von den Verantwortlichen der White Star Line offensichtlich als nicht so wertvoll angesehen wurde als das der »besseren« Passagiere. Es war eine schockierende Offenbarung, die Tatsache jedoch ließ sich nicht bestreiten. Die Statistik enthüllte die ganze grausame Wahrheit: Während die meisten Passagiere der ersten Klasse das Unglück überlebten, kamen mehr als drei Viertel derjenigen, die unterhalb der Wasserlinie wie gefangen festsaßen, ums Leben – entweder weil es aufgrund der äußeren Gegebenheiten unmöglich war, sie zu retten, oder weil nur wenige bereit waren, den Versuch zu ihrer Rettung zu unternehmen.
Viele der die Schifffahrt tangierenden Gesetze und Regelungen – auch solche, die weitaus mehr und ganz anderes betrafen als die Unterbringung und Behandlung von Emigranten – wurden nach der fatalen Kollision der Titanic mit dem Eisberg geändert.
7. Todesfälle auf See
I mmer wieder mussten im Lauf der Geschichte Unglücke auf See passieren, damit man die Schifffahrtsgesetze änderte. Und viele der größeren Schiffskatastrophen der jüngeren Zeit ereigneten sich, wie der Untergang der Titanic , auf oder in der Nähe einer der befahrensten Routen auf dem Atlantik. Dass wir das im Nu feststellen können, verdanken wir einem in Vergessenheit geratenen Universalgelehrten des 19. Jahrhunderts, einem Mann namens William Marsden, der als Sekretär der Admiralität von Berufs wegen daran interessiert war, Statistiken über alles mögliche die Weltmeere Betreffende anzulegen. Marsden teilte eine Mercator-Weltkarte in eine Reihe von mit Ziffern versehenen Quadraten auf, die bis heute als Marsden-Squares bekannt sind.
In vierteljährlichem Abstand gibt die Lloyd-Versicherung eine Havarieliste heraus, eine Aufstellung der Schiffe, die aufgrund von Kollision mit einem anderen Schiff, Untergang oder weil sie irgendwo auflaufen, verloren gehen oder derart stark beschädigt werden, dass sie in einen Hafen geschleppt und quasi neu aufgebaut werden müssen. Die Stellen, an denen es zu der Havarie kam, werden auf einer in Marsden-Squares unterteilten Weltkarte mit schwarzen Punkten markiert. Auf diese Weise wird erkennbar, dass es an bestimmten Orten – dort, wo man dies auch erwartet – zu einer Konzentration von Unfällen kommt: in den überfüllten Gewässern vor Singapur, im Schwarzen Meer, südlich von Sizilien, in der südlichen Ägäis.
Doch auch der Atlantik hat seine Problemstellen. Ungeheuer viele Unglücksfälle werden jedes Jahr von den Küsten Norwegens und Westschottlands gemeldet, außerdem aus dem gesamten Ärmelkanal, von der Küste von Südwales, der Zufahrtsroute nach Rotterdam, von der galizischen Küste, der spanischen Seite der Straße von Gibraltar, der Küste von Lagos und den Zufahrtsrouten nach Kapstadt. Das Meer vor Südamerika schneidet im Verhältnis dazu noch ganz gut ab – die Quadrate 413 und
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