Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
ruhigen Ausläufers des Atlantiks wie des Ärmelkanals einen derartigen Schrecken, dass sie rebellierten. Sie hockten sich auf ihre Lanzen, weigerten sich, sich in Marsch zu setzen, und brachten protestierend vor, das Meer zu überqueren sei so, »wie jenseits der bewohnten Welt kämpfen zu müssen«. Am Ende gingen sie doch an Bord der Kriegsschiffe, ließen sich bis zu den Stränden Kents bringen und trugen so zur weiteren Expansion des Imperiums bei – doch sogar zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung, im Jahr 117, war es ein Reich, für das der Atlantik vom Solway Firth im Norden bis zu der alten phönizischen Siedlung Lixus an der marokkanischen Küste im Süden eine quasi unüberwindbare Grenze bildete. Sie stießen vielleicht hin und wieder in See, um in den flacheren Küstengewässern Handel zu treiben, aber zum richtigen Ozean hielten sie respektvolle Distanz und zeigten sich zu keiner Zeit so kühn wie ihre Vorgänger.
Und auch nicht so kühn wie die Menschen, die schließlich ihre Nachfolger wurden. Denn nach einer längeren Periode, in der rätselhafterweise die Aktivitäten an den Küsten des mittleren Atlantiks weitgehend zum Erliegen gekommen waren, begannen die Araber von ihren neuen Besitzungen in Andalusien aus und einige Zeit später auch die norditalienischen Genuesen in diesen Gebieten Handel zu treiben. Aufzeichnungen belegen, dass sie in südlicher Richtung bis in Höhe des Nun-Vorgebirges – in der Nähe der ehemaligen spanischen Kolonie Ifni – vorstießen. Dort trafen die arabischen und italienischen Kaufleute mit Karawanen, die aus den Wüsten Nigerias und des Senegal herangezogen kamen, zusammen und erstanden alle Arten afrikanischer Exotika, mit denen sie ihre Kunden in Barcelona und den ligurischen Städten belieferten.
Doch sollten Fortschritte auf seemännischem Gebiet und Furchtlosigkeit kein Monopol von Seeleuten aus dem Mittelmeerraum bleiben. Lange vor den Arabern und den Genuesen – allerdings viel später als die Phönizier, deren Unternehmungen die aller anderen Völker in den Schatten stellten – hatten Menschen aus dem Norden ihre Boote den viel kälteren und raueren Wogen des Nordatlantiks anvertraut. Es waren weniger kommerzielle Motive, die sie aufs Meer trieben, als Neugier und in geringerem Maß auch das Verlangen nach einem Reich sowie danach, das Wort Gottes zu verkünden. Zwei Gruppen von Seefahrern dominierten – zumindest im ersten Jahrtausend: die Wikinger, die es zu größter Bekanntheit brachten, zu Beginn aber auch, heute oft im Dunkel der Geschichte versunken, die Iren.
Man kann sich kaum unterschiedlichere Wasserfahrzeuge vorstellen als die, welche im ersten Millennium von skandinavischen beziehungsweise irischen Schiffszimmerern gefertigt wurden. Die Wikinger, die bis heute noch berüchtigt dafür sind, die Tradition der Freibeuterei, das heißt blutiger Plünderungen und Raubzüge, begründet zu haben, hielten sich zumeist in Küstennähe. Sie stachen, auf Beutemachen und Brandschatzen bedacht, in ihren berühmten Langbooten in See; die Nordmänner, wie man heute die friedfertigeren aus Skandinavien stammenden Händler und Exploratoren der Zeit meistens nennt, verwendeten etwas rundlichere, schwerfälligere Boote des Typs, der als knorr bekannt war.
Es waren hölzerne Boote in Klinkerbauweise, mit hochgezogenem Bug. Die kriegerischen Langboote maßen vom Bug bis zum Heck mehr als dreißig Meter und waren zumeist aus besonders hartem Eichenholz gefertigt; ihr hoher Vordersteven lief in einer geschnitzten figürlichen Darstellung aus. An einem Mast führten die Boote beider Typen ein gewaltiges, quadratisches Rahsegel, das bis zu zehn Meter breit und hoch sein konnte und tonnenschwer war. Sie benötigten eine mindestens fünfundzwanzig Mann starke Besatzung und konnten bei achterlichem Wind und ruhiger See eine Geschwindigkeit von fünfzehn Knoten erreichen.
Die Phönizier gehörten zu den ersten Völkern, die sich auf den Bau seetüchtiger Schiffe verstanden; sie setzten diese nicht nur für Handelsfahrten ein, sondern auch zu militärischen Zwecken. Dieses Relief zeigt eines ihrer Kriegsschiffe, das von in zwei Reihen übereinander untergebrachten Ruderern angetrieben wurde und dessen Bug mit einem gewaltigen Rammsporn bewehrt war.
Die Iren hingegen befuhren das wilde Meer an der Westseite ihrer Insel in Booten, die sie bis in unsere Zeit mit typisch keltischer Selbstherabsetzung als canoes bezeichnen. Der korrekte gälische Name für ein
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