Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
wahrscheinlich den südlichen Endpunkt ihrer Fahrten, und von hier aus bauten sie den Handel mit Murex zielstrebig und mit Macht aus. 10
Les Îles Purpuraires, wie man sie jetzt nennt, liegen von schäumenden Wirbeln und Strudeln umgeben mitten im Hafen des schmucken marokkanischen Orts Essaouira, einem wahren Juwel, heute vor allem für seine gigantischen aus dem 18. Jahrhundert stammenden Befestigungsanlagen bekannt. Mit Brustwehren und Schießscharten, mit Metallspitzen besetzten Bastionen und Reihen schwarzer Kanonen war die Stadt vor Angriffen von Land wie von See geschützt. Die gewaltige Anlage umschließt eine hübsche Altstadt. Die Wehrgänge oben auf den Ringmauern eignen sich ausgezeichnet dazu, den unablässig anbrandenden atlantischen Wogen zuzuschauen, vor allem wenn die Sonne über dem Meer niedersinkt. Die Phönizier entdeckten, dass die begehrten Schnecken dort zu Tausenden vorkamen; sie ballten sich in Felsspalten zusammen, und man konnte sie leicht in mit Gewichten beschwerten und mit Ködern bestückten Korbreusen fangen. Den Farbstoff, den die Tiere zur Verteidigung ausstoßen, zu extrahieren war weniger einfach, und das genaue Verfahren wurde sorgfältig geheim gehalten. Die Drüse, die das Sekret enthält, musste entfernt und in bleiernen Gefäßen gekocht werden. Um eine ausreichende Menge Purpur zum Färben eines einzigen Gewands zu gewinnen, benötigte man viele tausend Schnecken. Der Handel mit der Tinktur wurde streng überwacht, und zwar vom Heimathafen der Seeleute aus, die die Schnecken ernteten: von Tyros. Ein Jahrtausend lang war ein Gramm echten tyrischen Purpurs bis zu zwanzigmal mehr wert als das gleiche Quantum Gold.
Die Phönizier hatten unter Beweis gestellt, dass sie das nötige Geschick besaßen, um an der nordafrikanischen Küste entlangzusegeln, und das war gewissermaßen der Schlüssel zum Atlantik. Die Angst vor dem großen unbekannten Gewässer jenseits der Säulen des Herkules verflüchtigte sich schnell. Bald schon hätte ein Beobachter, der hoch oben auf den Kalkfelsen von Gibraltar oder Dschebel Musa Position bezogen hätte, Schiffe ausmachen können, die von den Angehörigen anderer Völker, europäischer, nordafrikanischer oder levantinischer, bemannt waren und aus der ruhigen blauen Fläche des Mittelmeers in den wogenden grauen Atlantik vorstießen – zunächst vielleicht nur zögerlich, dann aber genau so kühn und unerschrocken wie die Phönizier.
»Multi pertransibunt, et augebitur scientia«, lautet ein Spruch aus dem Buch Daniel, der viele Jahrhunderte später unter einer Abbildung auf der Titelseite eines Werks von Francis Bacon stehen würde: Der fantasievolle Stich zeigte eine Galeone, die zwischen den Säulen des Herkules hindurch aufs offene Meer segelt und die Sicherheiten und Annehmlichkeiten des Alten und Vertrauten hinter sich lässt: »Viele werden hindurchfahren, und ihr Wissen wird immer größer werden«, so lässt der Satz sich wohl am treffendsten übersetzen: Der Erwerb von Wissen setzt das Eingehen von Risiken voraus. Es war den Gastropoden mit ihrem Purpursekret zu verdanken, dass die Phönizier bereit waren, solche Risiken einzugehen, und damit das Wissen der Menschheit im Allgemeinen und das über den Atlantischen Ozean im Besonderen mehrten.
6. Im Westen Neues
D ie Phönizier verschwanden im 4. Jahrhundert v. Chr. von der Bühne des Weltgeschehens. Sie waren im Krieg besiegt, ihr Territorium von Nachbarvölkern annektiert und von Plünderern verwüstet worden. In dem Maß, in dem ihre Macht und ihre Kräfte nachließen, begannen die Seefahrer anderer Länder sich der Herausforderung durch den neu entdeckten Atlantik mit wachsender Entschiedenheit zu stellen. Einer von ihnen war Himilkon der Karthager (der im Zweiten Punischen Krieg den Römern unterlag, obwohl er über eine Flotte von vierzig Quinquiremen gebot), ein anderer Pytheas von Massalia, der bis nach Britannien vordrang, es umsegelte und ihm auch seinen Namen gab, danach Norwegen ansteuerte, Eisbergen begegnete, den Namen Thule ersann und die Ostsee fand.
Dann kamen die Römer – ein kriegerisches Volk, das aber von seiner ganzen Mentalität her niemals wirklich zur Seefahrt geneigt hatte und vielleicht aus diesem Grund anfangs auch ein wenig bängliche Seeleute hervorbrachte. Dem römischen Historiker Cassius Dio zufolge empfanden die Legionäre, die im Jahr 43 n. Chr. an der Invasion Britanniens durch Claudius beteiligt waren, sogar vor der Überquerung eines doch so
Weitere Kostenlose Bücher