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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und so hoch waren, dass ihre Spitzen in den Wolkenwirbeln über ihnen verschwanden.
    Bei näherer Betrachtung entpuppten sich die Felswände aber nicht als vollkommen schwarz. Grüne Flecken hoben sich von ihnen ab, grasbewachsene Vorsprünge, von Kaskaden herabströmenden Wassers umflossen, jedes Mal, wenn ein neuer Sturmschauer vorübergezogen war. Diese schmalen Grasflächen neigten sich in einem Winkel von siebzig, achtzig Grad nach unten, so dass kein Mensch aufrecht auf ihnen hätte stehen können – er wäre in Gefahr gewesen, Hunderte von Fuß tief in ein Meer von purem Indigoblau zu stürzen –, aber ich sah, dass auf jeder von ihnen Schafe weideten.
    Sie waren als Lämmer von jungen Insulanern zu Anfang des Frühjahrs dorthin gebracht worden. Diese Schäfer waren die Klippen hinaufgeklettert – man konnte Seile sehen, die zwischen Kletter- und Karabinerhaken, die vor dem dunklen Felshintergrund funkelten, wenn die Sonne auf sie fiel, gespannt waren und ein regelrechtes Netzwerk bildeten. Aus Ruderbooten waren ihnen die Lämmer gereicht worden; eines der blökenden Tiere nach dem anderen hatten sie sich quer über die Schultern gelegt und sich dann mit ihnen mühselig nach oben gehangelt, mit auf dem nassen Felsen abrutschenden Stiefelsohlen, bis zu der winzigen, steil abfallenden Weide.
    Mit einer Hand hatten sie sich am Seil festgehalten, mit der anderen das vor Angst zitternde, nasse und warme Tier von ihren Schultern gehoben und möglichst weit vom Rand der Grasfläche entfernt, dort, wo es einen sicheren Stand hatte, niedergesetzt. Das Boot tausend Fuß unter ihnen hatte winzig ausgesehen, die Insassen waren kaum zu erkennen gewesen; man hatte nur ihre Gesichter sehen können, nach oben gewandt, um sich zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Die jungen Schafe waren einen Augenblick verwirrt herumgeschwankt, hatten dann in die Luft geschnuppert, verwundert in die Tiefe gestarrt und schell erkannt, was sie tun mussten, um zu überleben – nach Möglichkeit fest auf allen vieren stehen und sich nur langsam und vorsichtig bewegen. Ruhiger geworden, hatten sie dann ihre Nasen in das üppige Gras gesteckt, das vom Kot der umherschwirrenden Papageientaucher monatelang gedüngt worden war. Und so hatten sie dort den Rest des Sommers verbracht.
    Von unten konnte ich sie sehen, Hunderte weißwollener Punkte, die sich immer hinter ihren Nasen her mit kleinen Schritten durchs Gras schoben und stets im Begriff zu sein schienen abzustürzen, es aber offenbar nie taten, sogar bei Sturm nicht oder wenn Regengüsse die Grasfläche so glatt wie eine Ölhaut und schmierig wie Tran werden ließen.
    Wenn St. Brendan wirklich zu den Färöern gefahren ist, dann muss er von den Hebriden aus fast genau nordwärts gesegelt sein. Doch wenn er im Anschluss an seinen Aufenthalt auf den Inseln (bei dem er der Navigatio zufolge mit anderen zusammengetroffen sein soll, die ihm ähnelten, woraus man folgern könnte, dass er nicht der erste Ire war, der sie erreichte) weiter einen nördlichen Kurs hätte steuern lassen, wären die Aussichten für ihn und seine Gefährten düster gewesen, sie hätten erst mit Kälte, dann mit ungeheurer Kälte und schließlich mit Eis rechnen müssen. Auch eine Fahrt nach Osten wäre kein Honigschlecken gewesen: Die Expedition hätte dann zu der – damals schon bekannten – gefährlichen Felsenküste Norwegens geführt. Also blieb nur der Kurs Richtung Westen. Doch würde das kleine Boot Wogen und Winden, Stürmen und Strömungen trotzen müssen, die möglicherweise auch der erfahrenste Seemann von diesem Häufchen argloser Mönchlein aus Clonfert im Landesinneren der irischen Insel nicht würde meistern können.
    Als Tim Severin einen Nachbau von Brendans curragh in den Sommermonaten der Jahre 1976 und 1977 über den Atlantik steuerte (er meinte, da der Heilige nicht weniger als sieben Sommer benötigt habe, um den Ozean zu überqueren, sei er berechtigt, zwei darauf zu verwenden), legte er bei den Färöern und auf Island an und erreichte schließlich, nachdem er in der Dänemarkstraße tobende Stürme überstanden hatte, Neufundland. Mit seiner Expedition bewies er, dass es möglich war, in einem curragh mit ledernem Rumpf den Atlantik zu überqueren, vorausgesetzt – genau wie der irische Bootsbauer einschränkend gemeint hatte –, die Crew war gut genug. Doch wenn er auch demonstrierte, dass man im frühen Mittelalter eine solche Fahrt hätte absolvieren können, bewies er nicht, dass

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