Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Stelle des amerikanischen Kontinents gelandet war, und zwar, wie auf dem Blatt angegeben, genau im Jahr 1001.
Hier war der dokumentarische Beleg für etwas, das alle heißblütigen Italiener schon seit Langem befürchtet hatten: dass nicht Kolumbus als Erster den Atlantik überquert hatte, sondern ein »Nordmann« des 11. Jahrhunderts. Nicht nur der Stolz der Genuesen erfuhr eine Kränkung, es kam noch eine Beleidigung hinzu. Man entschied sich in Yale, voll demonstrativer Unverfrorenheit, den Besitz seines Schatzes mit einem üppigen Festessen zu begehen, bei dem ein aus Eis skulptiertes Wikinger-Langboot die Tafel schmückte und der Bibliotheksdirektor, eigentlich ein nüchterner Gelehrtentyp, sich einen vom norwegischen König persönlich überbrachten Eisenhelm auf den Schädel gestülpt hatte. Um allem die Krone aufzusetzen, ließ man die ausgelassene Feier ausgerechnet am 12. Oktober stattfinden, dem »Columbus Day«. Dass man ausgerechnet diesen Termin gewählt hatte, um geltend zu machen, dass ein Norweger als erster Europäer in Amerika gelandet war, war natürlich alles andere als taktvoll, und viele italienischstämmige Bürger der USA fühlten sich vor den Kopf gestoßen.
»Einundzwanzig Millionen Amerikaner werden ihnen diese große Beleidigung nachtragen«, verkündete der damalige Präsident der Italian-American Historical Society mit Bezug auf die Leute von Yale.
Das einzige Problem bestand darin, dass die kleine, nur 29 mal 40,5 Zentimeter große Karte aus vergilbtem und brüchigem Pergament sich in ein Dokument verwandelte, um das sich Ungewissheiten aller Art rankten und ein erbitterter Streit tobte. Witten, der Buchhändler, hatte nicht die Wahrheit darüber gesagt, wo und wie es in seinen Besitz gelangt war. Der Italiener (die Ironie, die darin lag, dass es ein solcher gewesen war, entging keinem), der es ihm für 3500 Dollar überlassen und vorher vergeblich versuchte hatte, es dem British Museum zu verkaufen, entpuppte sich als ehemaliger Faschist und war in der Vergangenheit schon des Diebstahls überführt worden. Eine Analyse der Tinte ergab, dass diese einen hohen Anteil an Chemikalien enthielt, die zur angeblichen Entstehungszeit der Karte noch nicht zur Verfügung gestanden hatten, und obwohl das Pergament selbst nachweislich aus dem 15. Jahrhundert stammte, schien es mit einem Öl behandelt worden zu sein, das in den 1950er Jahren hergestellt worden war. Außerdem zeigte sich, dass der vermeintliche Knick in der Kartenmitte gar keiner war, sondern dass es sich vielmehr um eine Klebestelle handelte und die beiden zusammengefügten Hälften an den Kanten die Spuren merkwürdiger chemischer Substanzen aufwiesen. Darüber hinaus steckten die lateinischen Inschriften voller æ-Ligaturen, einem Schriftzeichen, das zu der Zeit, da die Karte gezeichnet worden sein sollte, nur selten verwendet wurde.
All das wurde schließlich zu viel für Yale, und 1974 erklärte der entnervte Bibliothekar den wertvollen Schatz, den man dort hütete, zu einer Fälschung. Das war aber keineswegs das Ende der Geschichte. Mitte der achtziger Jahre führte man weitere Tests durch, und diese ließen darauf schließen, dass man bei den Überprüfungen im Jahrzehnt davor geschludert hatte. Deswegen änderte man 1987 in Yale erneut seine Meinung und gab bekannt, dass man von der Echtheit des Dokuments überzeugt sei; es wurde, für alle Fälle, für 25000000 Dollar versichert. Zu der Zeit, in der das vorliegende Buch entstand, lagen Skeptiker und Gläubige immer noch im Kampf miteinander; weitere chemische Analysen sowie spektroskopische Tests konnten nicht für Klarheit sorgen, im Gegenteil: Die Ergebnisse haben alles nur noch komplizierter werden lassen. Überdies ist der Name eines sonderbaren antinazistischen Fälschers ins Spiel gebracht worden, der ein genügend starkes Motiv dafür gehabt haben könnte, die Karte zu fabrizieren. 11 Trotz allem hat der Rektor der Konservatorenschule an der dänischen Akademie der schönen Künste 2009 mit Nachdruck versichert, dass die Karte echt sei.
Wie auch immer, es gibt ein weiteres rätselhaftes Problem: Allen in Yale unternommenen konservatorischen Bemühungen zum Trotz wird die Tinte immer blasser, so dass sie schon nahezu unsichtbar geworden ist. Warum dieser Verfallsprozess, neunhundert Jahre nachdem die Karte angeblich gezeichnet wurde, eine solch plötzliche Beschleunigung erfahren sollte, vermag niemand zu erklären. Falls es sich um einen raffinierten Trick
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