Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
handelt, dann bildet dieses Verblassen eine ironische Coda zu der ganzen Geschichte: Die Vinland-Karte könnte einfach ins Nichts übergehen.
Während der Wirbel um dieses einzelne in Yale aufbewahrte Pergamentblatt sich immer noch nicht gelegt hat, haben eine Reihe in skandinavischen Bibliotheken aufgefundener (und zweifelsohne authentischer) Landkarten sowie eine archäologische Entdeckung, die aufgrund dessen zustande kam, was auf diesen Karten zu sehen ist, es unmöglich gemacht, die Behauptung, Kolumbus habe als Erster Amerika entdeckt, weiter aufrechtzuerhalten. Bei diesen Karten handelt es sich durchweg um sauber gezeichnete Kopien eines weniger spektakulären, am Ende aber wesentlich nützlicheren Dokuments als die Vinland-Karte, das heute als Skálholt-Karte bekannt ist. Sie wurde 1570 von einem isländischen Schullehrer namens Sigurd Stefánsson angefertigt, der mit ihr aufzeigen wollte, an welchen Küsten des Nordatlantiks den verschiedenen von ihm gelesenen isländischen Sagas und Berichten zufolge Entdecker und Händler aus Nordeuropa gelandet waren.
Das Original ist seit Langem verschollen, doch die erhaltenen Kopien zeigen alle dasselbe: den Mare Glaciale , also Eismeer, genannten Atlantik mit verschiedenen Inseln wie den Färöern, Island, den Shetlands und den Orkneys, alle mehr oder weniger in richtiger Relation zueinander und von einer beinahe zusammenhängenden Landmasse gesäumt, von der einzelne Teile namentlich identifiziert sind. Da ist natürlich Norwegen zu sehen, im Westen schließt sich Grönland an, dem in südlicher Richtung, von oben nach unten, Helleland, Markland und Skralingeland folgen (was Nordisten mit Steinland, Waldland und Land der Wilden übersetzen und für Teile Neufundlands halten), und dann schließlich vom Südwesten, also dem linken unteren Rand der Karte, aus in die Darstellung hineinragend eine schmale, nach Norden verlaufende Halbinsel, die einfach nur als Promontorium Vinlandiae bezeichnet wird.
Das war der Beleg, der eine jahrzehntelange Suche zu ihrem Abschluss brachte. Seitdem sich herumgesprochen hatte, dass in isländischen Sagas von einem »Vinland« erzählt wurde, hatten vor allem im Nordosten Amerikaner und Kanadier ihre Grundstücke und deren Umgebungen nach allem durchkämmt, was auf eine ehemalige Wikingersiedlung hätte hinweisen können; denn wer hätte nicht gerne sagen können, dass europäische Füße den Kontinent dort zum ersten Mal betreten hatten, wo sich Hunderte von Jahren später der eigene Vorgarten befand, oder dass Seefahrer aus Skandinavien einmal über den Strand seines Heimatorts gezogen waren? Steine mit eingemeißelten Runen – alles Fälschungen – kamen in so unwahrscheinlichen Regionen wie Minnesota und Oklahoma zum Vorschein, eine Wikingerstatue wurde am Ufer von Thoreaus 12 Merrimack River ausgegraben; die für amerikanische Ureinwohner ungewöhnliche Hautfarbe und Körpergröße der Narragansett-Indianer auf Rhode Island wurde als angeblicher Beweis dafür angeführt, dass Nordmänner einst eine Kolonie in der Nähe des heutigen Providence gegründet hatten, und ein wohlhabender Chemieprofessor von der Universität Harvard behauptete, in Cambridge (wo sonst?), und zwar neben einer Verkehrsampel in der Nähe des Mount Auburn Hospital, die Stelle entdeckt zu haben, wo das Wohnhaus von Leif Eriksson gestanden hatte. Zusammen mit einem Geiger namens Ole Bull veranstaltete er eine Sammlung, um auf der Commonwealth Avenue in Boston eine Statue des skandinavischen Siedlers aufstellen zu lassen: Sie steht dort heute noch.
Trotz dieses ganzen Unsinns meinte Mitte der fünfziger Jahre ein norwegischer Fachmann für die Geschichte der Wikinger mit Namen Helge Ingstad, dass die Skálholt-Karte bei einem eingehenden Studium Aufschluss darüber geben könne, wo man Leif Erikssons Vinland zu suchen habe. Er mutmaßte, dass es irgendwo in der kanadischen Provinz Neufundland gelegen habe, und zwar auf einer großen in nördlicher Richtung verlaufenden Halbinsel unterhalb der Long-Range-Gebirgskette, die sich auf der Westseite der Insel entlangzieht. Von dieser – wohlüberlegten und -begründeten – Annahme ausgehend, unternahm er jedes Jahr Erkundungszüge nach Kanada, wo er Dorfbewohnern und Farmern in den entlegenen Ortschaften im Gebiet zwischen dem Städtchen Stephenville Crossing und den kleinen Meeresbuchten fast dreihundert Meilen nördlich davon, an den Ufern der Strait of Belle Isle, immer wieder Fragen stellte.
Eines Tages
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