Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Relation zu den drei gut sichtbaren marokkanischen Kaps, Rhir, Draa und Juby, ablesen, wie groß die Strecke war, die er zurückgelegt hatte. Er sah die Feuer in den Siedlungen Casablanca, Essaouira und El Ayoun blinken, und ihre Nähe tröstete ihn – denn wie die meisten Seefahrer jener frühen Zeit war er vermutlich von Unruhe erfüllt, und es widerstrebte ihm, sich zu weit von der Küste zu entfernen. Dicht an den Ufern »entlangzukriechen« vermittelte ihm ein Gefühl von verhältnismäßiger Sicherheit.
Dieses Gefühl verflüchtigte sich aber jäh, wenn er Bojador erreichte. Eine Sandbank ragte unter der Wasseroberfläche, also unsichtbar, zwanzig Meilen weit von dem niedrigen Kap ins Meer hinein, so dass er nur zwei Faden tief Wasser unter dem Kiel hatte. Daher war er gezwungen, nach Steuerbord abzudrehen und, obwohl ihm das überhaupt nicht ratsam erschien, aufs offene Meer hinauszufahren. Gleichzeitig verrieten ihm die Anzeiger an seinem Mast, dass sich die sanfte, träge Brise, die vor der marokkanischen Küste geweht hatte, urplötzlich in einen stetigen kräftigen Ostwind verwandelte hatte, der ohne Weiteres auf nahezu Sturmstärke anwachsen konnte. (Während der meisten Zeit des Jahres schlagen die Winde an genau dieser Stelle um, und auf modernen Satellitenaufnahmen ist zu erkennen, wie langgezogene Wolken von Wüstensand jeden Sommer auf den Ozean hinausgeweht werden. 19 ) Und dann, sobald die unter der Oberfläche verborgene Sandbank umschifft war, ergriff eine kräftige Strömung – die Nordäquatorialströmung – das Boot des Seefahrers und begann es nach Westen mitzureißen, unter Umständen bis zu sechshundert Meilen weit.
An diesem Kap lauerten aber sogar noch tückischere Gefahren. Während des größten Teils der Fahrt an der Küste entlang half eine Strömung Richtung Süden – die die Portugiesen die Guineaströmung nannten, die heute aber als Kanarenstrom bezeichnet wird – den Seeleuten früherer Zeiten, geschwind an der Küste entlangzufahren, vorausgesetzt, sie hielten sich dicht an Land. Das zu tun war wichtig, weil ein Charakteristikum dieser Strömung darin bestand, dass sie mit zunehmender Entfernung vom Land immer schwächer wurde. Damit blieben aber dem Kommandanten eines Schiffes nur zwei gleichermaßen unangenehme Möglichkeiten: sich entweder in Küstenähe zu halten und es zu riskieren, in die Umarmung durch den nach Westen fließenden Äquatorialstrom zu geraten, oder sich ein gutes Stück von Land zu entfernen und dort draußen nur noch von einer trägen Strömung und schwachen Winden vorangetrieben oder vielleicht sogar ganz bekalmt zu werden, das heißt bewegungslos liegen zu bleiben, mit immer knapper werdendem Proviant und zur Neige gehendem Trinkwasser.
Es verwundert nicht, dass es niemandem gelang, dieses Kap zu umrunden, bis zu einem entscheidenden Zeitpunkt im Jahr 1434 – siebzig Jahre vor Vespucci. Es waren die wachsende Vertrautheit, der zunehmende Einblick in die komplexen maritimen Verhältnisse, die es schließlich ermöglichten, Cabo Bojador zu bezwingen. Die frühe Phase der Erkundung des Atlantiks ging allmählich in eine seiner konsequenten, ja rigorosen Untersuchung über. »Die See kennenlernen«, lautete jetzt die Parole, denn nur wenn man sie wirklich kannte, im wahrsten Sinn des Wortes »von Grund auf«, konnte man ihren Gefahren aus dem Weg gehen und ihre Schätze bergen. Die Geschichte von Cabo Bojador illustriert diesen Wandel der Einstellung.
Es war ein junger portugiesischer Seefahrer namens Gil Eannes, dem man allgemein das Verdienst zuschreibt, genügend navigatorische Kenntnisse und auch das nötige »Gefühl für die See« besessen zu haben, um die Route nach Süden zu öffnen. Zwar gingen die meisten schriftlichen Unterlagen, die seine Fahrt betrafen, bei dem großen Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 verloren, es bleiben aber genügend Zeugnisse in Form von Erzählungen und Berichten, die darauf verweisen, wie genau er dies bewerkstelligte. Es war ganz und gar eine Sache der Intelligenz, das heißt, er brachte solche intellektuellen Techniken zum Einsatz wie Beobachten, Vorausdenken, Wahl der richtigen Zeit, kluges Planen und sorgfältiges Berechnen.
Vor Eannes setzten Seeleute sich einfach ein Ziel (beziehungsweise es wurde ihnen von ihren Geldgebern gesetzt), verproviantierten ihr Schiff und fuhren los – und im Fall der westafrikanischen Unternehmungen sahen sie sich allesamt gezwungen, nach wenig mehr als tausend Meilen
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