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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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umzukehren. Diese Seeleute folgten den uralten, schon fast rituellen Prozeduren – sie ließen sich von den Strömungen vorantreiben, segelten vor dem Wind, fuhren den Seevögeln hinterher. Doch was Gil Eannes tat, verlangte eine umfassende Planung und bezog die in der Entwicklung begriffene Wissenschaft der Navigation nach Himmelskörpern mit ein, die den arabischen Händlern schon bekannt war, nachdem sie sich langsam vom Fernen Osten, vor allem von China aus verbreitet hatte.
    Eannes war überzeugt, dass man den gesamten Atlantik befahren und auch Orte erreichen konnte, zu denen man nicht von Strömungen oder Winden getragen oder von Vögeln geleitet wurde. Man musste nur die Instrumente benutzen, die schnell in immer reicherer Zahl verfügbar wurden, sich mit ihrer Hilfe an Gestirnen orientieren und die genaue Zeit ermitteln. Die Kenntnis des Wetters, der für eine Region und eine Jahreszeit typischen klimatischen Verhältnisse und der Geografie des Ozeans musste hinzukommen. Um das Cabo Bojador zu passieren, war es unter anderem nötig, die Strömungsgeschwindigkeit und -richtung des Wassers genau zu eruieren sowie die gewöhnliche Richtung und durchschnittliche Stärke der Winde zu bestimmen. Es bedurfte der Entwicklung einer Technik, die heute als current sailing (Strömungssegeln) bekannt ist. Eannes trug auch Strömungsdreiecke in seine kruden, aber ständig genauer werdenden Karten ein, arbeitete mit Vektoren, führte intelligente Kreuzmanöver gegen den Wind aus und achtete auf sorgfältige Zeitnahme. Nachdem er die Strömungen und die Winde genau erkundet hatte und über ihre Richtung und Geschwindigkeit Bescheid wusste, war es nur noch eine einfache trigonometrische Aufgabe, einen Kurs zu berechnen, auf dem man von ihnen profitieren würde. Doch musste in die Planung auch die Wahl der Jahreszeit einbezogen werden, da bezüglich Windrichtung und -stärke saisonale Unterschiede bestanden.
    Erst nachdem er alle relevanten Informationen verarbeitet und berücksichtigt sowie Berechnungen mit ihnen angestellt hatte, konnte Eannes den Befehl geben, Segel zu setzen, dem Steuermann Anweisungen erteilen, den Bugspriet in eine Richtung zu drehen und einen Kurs einzuschlagen, der seinen erfolglosen Vorgängern exzentrisch, sozusagen »abwegig« vorgekommen sein muss.
    Die genauen Einzelheiten seiner berühmten Fahrt sind nicht bekannt – es ist kein Schiffstagebuch oder Logbuch erhalten, noch nicht einmal der Name seines Schiffes ist überliefert. Alles, was wir wissen, ist, dass Eannes auf den ausdrücklichen Befehl von Heinrich dem Seefahrer, dem dem königlichen Hause entstammenden Architekten des portugiesischen Imperiums, seine Expedition nach Süden unternahm. Heinrich hatte nur den trockenen Kommentar abgegeben, wo schon vierzehn Versuche, das Kap zu passieren, gescheitert seien, könne es nicht schaden, wenn Eannes, der eigentlich nur einer der Leibdiener des Infanten war, es auch einmal probiere.
    Eannes tat wie ihm geheißen. Er segelte südwestlich nach Madeira und zu den Kanarischen Inseln und nahm dann all seine komplizierten arithmetischen Berechnungen vor. Er begann eine Fahrt über die Tiefen des offenen Meeres mit oftmaligen Kurswechseln, Schwenks und Wendungen, wie sie seitdem als portugiesische volta bekannt ist, und auf diese Weise gelang es ihm schließlich, das gefürchtete Kap zu passieren. Dann wurde er von den heftigen Stößen eines Harmattan-Windes ungefähr dreißig Meilen südlich von Bojador an die sandige und trockene Küste getrieben, wo er ein Exemplar der verholzten Wüstenpflanze, die als Rose von Jericho bekannt ist, aufsammelte, die er zum Beweis dafür, wie weit er vorgedrungen war, mit in die Heimat zurückbrachte. Das hatte jedoch nicht den erhofften Erfolg. Es vermochte den skeptischen Infanten weder zu überzeugen noch zu befriedigen, der Gil Eannes deswegen umgehend den Befehl erteilte, erneut in See zu stechen.
    Also begab er sich im Jahr darauf, 1435, wieder auf große Fahrt, diesmal mit einem Gefährten, einem Mann, der ebenfalls als Diener dem Hof angehörte, aber zugleich ein Freizeitsegler war. Sie führten ihre winzige barca , kaum größer als ein Fischerboot, auf fast genau derselben vorher abgesteckten Route in Richtung Südatlantik, wobei sie wiederum südlich der Kanarischen Inseln einen weiten Schwenk nach Westen machten. Die Männer landeten an beinahe genau demselben Fleck der afrikanischen Küste, an den es Eannes beim ersten Mal verschlagen hatte. Sie

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