Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
zufrieden, wenn auch in relativer Obskurität residiert.
Ihre wichtigste Publikation legte die Organisation 1928 vor. Es war eine hübsch aufgemachte, grün eingebundene Broschüre, im Hochdruckverfahren von der Imprimerie Monégasque in Monte Carlo hergestellt, die fünfunddreißig US-Cent kostete. Ihr vollständiger Titel lautete: »IHO Special Publication No. S. 23, ›Limits of Oceans and Seas‹«. Auf den vierundzwanzig Seiten dieses bezaubernden Büchleins konnte man eine Reihe offizieller Verlautbarungen finden, wie zum Beispiel folgende formelle Definition einer der Grenzen des Ärmelkanals:
»Im Westen: Von der Küste der Bretagne westwärts, parallel zum äußeren östlichen Rand von Ushant (Lédènes), durch diese Insel hindurch bis zu ihrem westlichen Ende (Le Kainec), von dort zum Bishop Rock, dem äußersten südwestlichen Punkt der Scilly Islands, und dann im Westen dieser Inseln in direkter Linie bis zu ihrem äußersten nördlichen Punkt (Lion Rock), von dort aus in östlicher Richtung bis zu den Longships und weiter bis Land’s End . «
Die Welt ist in den darauffolgenden Jahren vielleicht nicht größer geworden, doch die Definitionen und Benennungen ihrer Meere nahmen an Zahl zu, und die Kontroversen zwischen den Ländern, die an sie grenzen, taten dies auch. Entsprechend wuchs der Umfang dieser Broschüre, zunächst nur in einem bescheidenen Maß, dann gewaltig. Aus den vierundzwanzig Seiten der ersten Ausgabe wurden in der zweiten sechsundzwanzig und in der dritten achtunddreißig; als aber 2002 die vierte Ausgabe herauskam, war sie auf zweihundertvierundvierzig angeschwollen. Meere, die so obskur waren, dass nur die Menschen, die an ihren Ufern lebten, jemals von ihnen gehört hatten, existierten danach offiziell. So gibt es zum Beispiel eine Ceramsee, eine Kosmonautensee, ein Alborán Meer, eine Lincolnsee, ein Gewässer mit der etwas tautologischen Bezeichnung »Sound Sea« (Sundsee) und Aberdutzende andere. 18
Drei ranghohe Marineoffiziere aus Mitgliedsstaaten werden als Leiter des IHO gewählt, und zwar gewöhnlich für eine Zeitspanne von fünf Jahren. Bevor ich nach Monaco fuhr, um mich mit ihnen zu treffen, sah ich das Trio vor meinem inneren Auge. In schmucke blaue Uniformen mit Goldkordeln und -fransen gekleidet, entschieden sie mit letzter Autorität über erhabene Dinge, die mit der weltweiten Seefahrt zu tun hatten – darüber, wie man die neuen Grenzen des Kattegat am besten festlegen könnte, ob man eine kartografische Erfassung der Region, wo die Arafurasee an den Golf von Carpentaria stößt, verlangen solle, oder auch darüber, ob es die Labradorsee oder der Sankt-Lorenz-Golf ist, der bei L’Anse aux Meadows ans Ufer schlägt. Sie lösten diese Fragen, während sie Pink Gins schlürften, groben Shag in ihren Pfeifen rauchten und an einem Walrosszahn herumschnitzten.
Wie es sich dann fügte, waren zwei der Offiziere – einer von der griechischen, der andere von der chilenischen Marine – nicht zugegen, als ich an einem schönen Wintermorgen vorsprach, und der Einzige »an Bord«, wie es in Büros tätige Fahrensleute gerne nennen, war der Vertreter Australiens. Er entpuppte sich als vollbärtiger Brite mittleren Alters in Zivilkleidern, ein Mann, der schon vor Jahren aus der Royal Navy ausgeschieden war, um in ihr australisches Äquivalent einzutreten, und für gewöhnlich in Melbourne Dienst tat. Seine Leidenschaft galt nicht so sehr Schiffen und dem Meer – sich damit zu befassen, war sein Beruf –, sondern einer Modelleisenbahn im Maßstab HO, die er in seinem Apartment in Villefranche aufgebaut hatte.
In ihrer offiziellen Funktion jedoch verwendeten er und seine Kollegen jeden Tag viele Stunden darauf, sich über die Unkenntnis der Menschheit bezüglich der Ozeane zu wundern, darüber zu wettern und sich zu fragen, wie man Abhilfe schaffen könne. Die Meere der Welt haben jetzt vielleicht mehr Namen, als der Durchschnittsmensch kennen möchte – doch ist das die Schuld der Politiker und eine Folge von Nationalstolz. Was der IHO Sorge bereitet, deren Aufgabe, wie schon ausgeführt, auch darin besteht, Karten herzustellen, mit deren Hilfe Schiffe alle Meere der Welt sicher befahren können, ist, in welch ihrer Ansicht nach gefährlichen Unkenntnis sich die meisten Landratten darüber befinden, wie es unter der Oberfläche dieser Gewässer aussieht. Um das deutlich zu machen, weisen sie gern auf ein verblüffendes statistisches Faktum hin: Während der Mensch die
Weitere Kostenlose Bücher