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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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jüngeren Vergangenheit haben dies schnell widergespiegelt.
    In der Musik wurde dieser Wandel durch die im 19. Jahrhundert erfolgende zahlenmäßige Erweiterung der Mitglieder eines Orchesters gefördert, denn dadurch war ein Komponist zum ersten Mal in der Lage, mit seiner Musik die Komplexität der See einzufangen. Der Musik des 18. Jahrhunderts haftete ein gewisser intellektueller Rationalismus an; sie war durch die Art der zur Verfügung stehenden Instrumente und die Zahl der Musiker eingeschränkt. Die romantische Schule der viktorianischen Zeit hingegen erweiterte zum einen die Zahl der Instrumente, die bei einem bestimmten Stück zum Einsatz kam, und führte zum anderen auch neue Instrumente ein, und so schien der Ozean mit seinen plötzlichen und umfassenden Stimmungsumschwüngen ein höchst angemessenes Sujet für kompositorische Bemühungen zu sein.
    Um auf ein frühes Beispiel einzugehen: Beethoven schuf 1815 die wenig bekannte Kantate Meeresstille und glückliche Fahrt , die Vertonung zweier kurzer Gedichte Goethes. Er brachte mit musikalischen Mitteln den Kontrast zwischen der düsteren Solemnität, die von einem bewegungslos bei Windstille auf dem Meer liegenden Schiff ausgeht, und dem Überschwang der munteren Winde, die den Schiffer später glücklich in den Hafen zurückkehren lassen, zum Ausdruck. Mendelssohn war von diesem kleinen Werk stark beeinflusst und schuf zwanzig Jahre später eine längere Konzertouvertüre mit demselben Titel. Die Ouvertüre gibt erst die Stille des unbewegten Meeres wieder, dann weist ein Flötentriller auf das In-Sicht-kommen eines Fleckchen blauen Himmels und das Sichauflösen des über dem Wasser hängenden Dunstes hin. Anschließend ahmen die Saiteninstrumente lautmalerisch das Aufkommen und Anschwellen des Windes nach, und am Ende erhebt ein einsames Cello die Stimme, und mit einer getragenen Melodie, einer der schönsten, die Mendelssohn schuf, wird die sichere Heimkehr des Schiffs in den Hafen gefeiert. Dieses Werk hätte hundert Jahre früher weder komponiert noch aufgeführt werden können. Es hätte weder das zu seiner Ausführung nötige Orchester gegeben, noch hätte ein damals lebender Komponist das nötige Selbstvertrauen besessen.
    Es überrascht nicht, dass italienische Komponisten des 19. Jahrhunderts für ihre musikalischen Ausflüge auf See das Mittelmeer bevorzugten – wie Verdi zum Beispiel sowohl in Simon Boccanegra als auch in Otello. Ihre Kollegen im Norden hingegen ließen sich eher vom Atlantik inspirieren. In Der Fliegende Holländer befasste Wagner sich mit der Sage von dem Gespensterschiff, dessen Kapitän wegen seines gotteslästerlichen Fluchens beim vergeblichen Versuch, das Kap der Guten Hoffnung zu umsegeln, dazu verurteilt war, auf ewig über das Meer zu irren. In Tristan und Isolde ließ Wagner die beiden Protagonisten über einen Teil desselben Meeres zwischen Irland und Cornwall hin- und herfahren. Gilbert and Sullivan evozierten in ihren drei komischen Opern, HMS Pinafore , The Pirates of Penzance und Ruddigore , den ganzen Zauber des Bordlebens, deckten aber auch das Skurrile daran auf. Modernere Tonschöpfer – wie Edward Elgar, Benjamin Britten, William Walton und Ralph Vaughan Williams – befassten sich alle mit dem Ozean und behandelten seine Majestät (Elgar in Sea Pictures ), die Tragödien, die sich auf ihm abspielen (Britten in seinem eigenen Peter Grimes und in seiner Adaption von Herman Melvilles Roman Billy Budd ), die bacchantischen Gewohnheiten der Matrosen, die ihn befahren (Walton in Portsmouth Point ), und des Meeres endlose Fähigkeit, eine elegisch-melancholische Gestimmtheit hervorzurufen. (Vaughan Williams in Sea Symphony , einer siebzigminütigen Choralsymphonie, zu der Gedichte Walt Whitmans, von denen viele von Long Island handeln, das Libretto lieferten.)
    Frederick Delius, der den Ozean von der Zeit her, als er in Ostflorida eine Grapefruitplantage bewirtschaftet hatte, aus erster Hand kannte, wurde ebenfalls von den Stränden Long Islands gefangen genommen, die er 1903 besuchte. Wie Vaughan Williams zeigte er sich von Whitman’s Gedichtzyklus Leaves of Grass gefesselt, vor allem von dem »Sea-Drift« überschriebenen Teil. Ein Gedicht daraus, »Out of the Cradle Endlessly Rocking«, inspirierte ihn zu seinem eigenen Werk mit dem Titel Sea Drift , einer fünfundzwanzigminütigen Komposition für Bariton und Orchester, das eines der eindringlichsten aller musikalischen Seestücke ist. Es nimmt Bezug auf

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