Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
flattert immer noch trotzig über Longwood House, in dem der berühmteste oder berüchtigtste Besucher der Insel nach Waterloo seine letzten Jahre verbringen musste, nachdem er von Plymouth aus auf der HMS Northumberland nach St. Helena verfrachtet worden war. Sogar die genaue postalische Ortsbezeichnung – St. Helena, South Atlantic Ocean (zu der noch ein Code hinzukommt, der von den automatischen Sortiergeräten in London gelesen werden kann) – knüpft ein formelles und offizielles Band zwischen dem Eiland und dem Meer.
Natürlich gibt es noch andere architektonische Perlen an den Ufern des Atlantiks, auch noch noblere, und Orte von größerem maritimen Charme, so wie es auch zwischen Torshavn auf den Färöern im Norden und Stanley auf den Falklands im Süden viele andere von vergleichbar reizender Bedeutungslosigkeit gibt. Auf St. Helena erhebt sich kein Leuchtturm – die Stevensons aus Edinburgh (der Familie, der auch Robert Louis entstammt), die einige der größten, schönsten und in technologischer Hinsicht anspruchsvollsten Bauten dieser Art im ganzen atlantischen Raum schufen, haben also keine Gelegenheit gehabt, auf der Insel ihr Zeichen zu hinterlassen. Wenn man dieses eine Manko außer Acht lässt, ist man jedoch versucht, St. Helena einen Spitzenplatz unter den visuellen Glanzstücken der ozeanischen Welt einzuräumen.
Die Insel lässt sich vielleicht am besten so kuriosen und exzentrischen Plätzen am oder im Atlantik an die Seite stellen wie Puerto Madryn in Argentinien, wo eine Reihe der Einheimischen (Abkömmlinge von Einwanderern aus Cardiganshire, die zum Eisenbahnbau angeworben wurden) immer noch Walisisch spricht, oder Axim in Ghana, wo es ein prachtvolles von den Holländern erbautes Fort gibt, oder auch der Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guyana, auf die Hauptmann Dreyfus von Paris geschickt wurde, um dort in Einzelhaft festgehalten zu werden. Ich bin aber der Meinung, dass dieser winzige koloniale Vorposten noch ein wenig mehr Anerkennung, ja Bewunderung verdiente.
7. Klänge der Gewässer
D er Ozean wird ähnlich kraftvoll wie in der älteren Literatur, Malerei und Musik auch in den zeitgenössischen Manifestationen dieser Genres zum Leben erweckt. Der Schrecken, den das große Meer in früheren Zeiten einflößte, ist längst abgeflaut, die Formalität, mit der es im 16. und dann im 17. Jahrhundert dargestellt wurde, ist seit Langem in ihr Gegenteil umgeschlagen; in der Moderne ist der Atlantik zu einer Entität geworden, die in allen ihren Stimmungen eingefangen werden muss, auch wegen ihrer so augenfälligen Dramatik, wegen ihrer Schönheit und spektakulären Gewalttätigkeit. Doch ist das Verhältnis der Menschheit von heute zu ihm auch viel intimer geworden – und das, so scheint es, hat viel mit dem gegenwärtigen Zustand der Zivilisation an seinen Ufern zu tun, mit einer condition des Daseins, der Existenz, zu welcher der Ozean dem Empfinden vieler nach die genaue Antithese liefert. Für viele stellt er heute etwas Bewundernswertes dar, er bietet dem Landbewohner Zuflucht vor seinen zahllosen Sorgen und befreit ihn auch von Bedürfnissen. Aufgrund der vielen Anforderungen, die das moderne Leben an uns stellt, wird das Meer als ein Refugium angesehen; auf ihm gibt es keine Menschenmassen, keinen Schmutz, keinen Mangel; es ist frei von den Slums einer modernen Großstadt, weit genug von den Wucherungen der Industrie, von der Dominanz des Geldes und der Habgier entfernt.
Natürlich muss der Atlantik immer noch befahren und überquert werden, des Kommerzes wegen oder aus reiner Neugierde und auch, um Krieg zu führen. Doch er ist auch ein Gewässer, das – wenn man es riskieren will, den Beginn dieser Entwicklung zu datieren –, seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts zunehmend als etwas angesehen wird, das angenehmeren Zwecken dient, vor allem dem der Erholung, der Rekreation – auch in einem ganz wörtlichen Sinn: der Re-Kreation des menschlichen Geistes. Der Ozean war immer noch ein großes und mächtiges Gewässer, das stimmt, doch was die Menschheit betraf, war es auch etwas Lauteres, etwas Reines und nicht von allem Möglichen Kontaminiertes; er besaß eine gewisse Noblesse, an der es den Industriestädten mit ihren Elendsvierteln vollkommen mangelte.
Der Ozean wurde zu etwas, das man beneiden, dem man Respekt und Bewunderung entgegenbringen musste. Das war ein größerer Wandel hinsichtlich seiner Bewertung – und die Kunst, die Literatur und die Musik der
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