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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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atlantisches Kunstwerk.
    Die Stadt mit ihren fünfzehnhundert Einwohnern, was einem Drittel der Gesamtbevölkerung der Insel entspricht, liegt in einem tief eingeschnittenen Tal am Nordufer und ist, wie Kapstadt, vollkommen von Hügeln umgeben. Es gibt aber keinen Anlegekai von brauchbarer Größe, was bedeutet, dass alle Schiffe, die eine bestimmte Tonnage überschreiten, in der James Bay vor Anker gehen und Passagiere sowie Frachtgüter mit Leichtern an Land gebracht werden müssen. Die legendären atlantischen Wogen, »in Stürmen geboren, die in so weit entfernten Regionen wie Neufundland toben«, wie die Insulaner gerne scherzhaft sagen, können das Ausbooten zu einem heiklen Manöver werden lassen oder dazu führen, dass die Aufenthalte im Hafen sich ungebührlich in die Länge ziehen. Doch das Panorama, das sich vor einem ausbreitet, wenn man auf einem der kleinen Boote auf den menschenüberfüllten Pier zutuckert, scheint einem Stich des 18. Jahrhunderts zu entstammen, ohne dass Änderungen oder Retuschen notwendig gewesen wären. Zur Linken sieht man ein kleines und wunderbar gestaltetes weiß gekalktes Fort liegen. Es besitzt winzige Innenhöfe und kopfsteingepflasterte offene Plätze; es gibt eine kleine hölzerne Zugbrücke und einen zinnenbewehrten Wall, der die dahinter liegende Stadt vor jeder feindseligen Aktion von See aus schützen sollte. Er ist von einem Tor durchbrochen, das sich mit einem Fallgitter schließen lässt und über dem das rot-weiß-silberne Wappen der East India Company eingemeißelt ist. Außerdem gibt es eine mikroskopisch kleine Kirche (die Kathedrale, St. Paul’s, liegt weiter im Inselinneren), einen Marktplatz mit einer Bank für »Oldtimer«, die im Schatten eines aus Indien importierten Pappelfeigenbaums (auch Buddhabaum genannt) steht, eine winzige Polizeistation mit dem schon erwähnten noch winzigeren Gefängnis und am Beginn der einzigen Hauptstraße, die sich sanft zu den braunen mit Flachs bestandenen Hügeln hochzieht, zwei Reihen von Regency-Wohnhäusern, von denen ein jedes in leuchtenden Farben gestrichen sowie mit eisernem Gitterwerk und Schiebefenstern versehen ist.
    Es ist eine Stadt »aus einem Guss«, wie man zu sagen pflegt. Da gibt es das Consulate Hotel mit einer glänzenden Messingtafel an der Front, Jacob’s Ladder, eine sechshundertneunundneunzig Stufen lange Treppe mit einem Eisengeländer, die in einem schwindeln machenden Winkel an der einen Flanke des Tals nach oben führt und angelegt wurde, damit man eine Einheit Wachsoldaten versorgen konnte, die auf den Klippen stationiert war, um sicherzustellen, dass alle, die sich der Insel in der Absicht näherten, Napoleon zu befreien, schon von Weitem gesehen und abgewehrt werden könnten. Es gibt eine öffentliche Grünanlage, in der ein Pfad im Zickzack zwischen den Jakarandabäumen und Bambusbüschen verläuft; dieser kleine Park war früher einmal der Damenwelt vorbehalten. Es gibt eine geschäftige Markthalle, wo der Boden von Seewasser schwimmt und überall tropfende Körbe voller Fische herumstehen. Als ich durch die Stadt lief, teilte sich ab und zu die Menge, um eine Jaguar-Limousine passieren zu lassen, mit einem Stander auf der Motorhaube und einem Kronensymbol statt eines Nummernschilds; der Wagen befördert Seine Exzellenz von seiner Residenz Plantation House (in deren Gärten es Riesenschildkröten gibt, die schon zu Napoleons Zeiten lebten) zu seinen Amtsräumen im Fort.
    Der Atlantik schleicht sich in jedes Gespräch, ja in das Denken aller ein. Natürlich wird das Wetter von ihm bestimmt – der Morgendunst, die Abendwinde, die unruhigen Wogen, die die Anlegepontons auf und ab tanzen lassen, so dass sie laut knarren. Die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Schiffe werden durch ihn vorgegeben – es existiert noch kein Flugplatz, und viele Insulaner gehen davon aus, dass auch nie einer angelegt werden wird, daher ist ein Royal Mail Ship in einer seiner vielen Inkarnationen seit eh und je das einzige Mittel, um die Insel zu verlassen und wieder auf sie zurückzukehren. Der tägliche Fang an Thunfischen kommt aus dem Atlantik, und das, was es auf der Insel noch an Wirtschaft gibt – man zog dort einmal Wasserkresse für die Royal Navy und baute Flachs für Taue und Stricke an, doch als das British Post Office beschloss, Plastikschnüre für Pakete zu verwenden, kam die gesamte Produktion zum Erliegen –, ist jetzt fast vollständig von der See abhängig. Die französische drapeau tricolore

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