Der Attentäter - The Assassin
zusammennehmen musste, um sich zu ihm umzudrehen. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit einer bisher nicht gekannten Bitterkeit. Wenn sie Angst hatte, ihn anzusehen, war das ein böses Omen.
»Naomi?«
Schließlich drehte sie sich um, den Blick zu Boden geschlagen. Die ganze rechte Hälfte ihres Gesichts war durch einen sauberen weißen Verband verdeckt. Aber auch sonst sah sie verändert aus. Sie war hohlwangig und hatte dunkle Ringe unter den traurig dreinschauenden Augen. Sofort war ihm klar, dass sie nicht nur unter den physischen Verletzungen gelitten hatte, sondern mehr noch unter dem Tod von Samantha Crane, in geringerem Maße vielleicht auch unter dem Matt Fosters. Das musste sie wochenlang schwer belastet haben.
»Hallo.« Sie zeigte auf die Vasen und versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. »Vielen Dank für die Blumen. Ein paar weniger hätten es vielleicht auch getan. Allmählich sieht es aus, als wäre hier ein Toter aufgebahrt. Auf solche Assoziationen kann ich gut verzichten.«
Er nickte bedächtig. Ihm war klar, dass es scherzhaft gemeint war, doch ihm war nicht zum Lachen zumute. Er hatte auf ihre Aussprache geachtet. Es war nicht so schlimm, wie Everett angedeutet hatte, tatsächlich konnte er kaum einen Unterschied im Vergleich zu früher feststellen. Plötzlich wusste er nicht,
was er sagen sollte. Was waren in so einer Situation die richtigen Worte? Wie konnte er sie trösten?
Er ging auf sie zu, aber sie wich zurück, bis ihr Rücken gegen die Fensterbank stieß. Verunsichert blieb er stehen. »Ich wollte dich sehen, Naomi«, sagte er langsam. »Aber wenn du mehr Zeit brauchst, kann ich auch wieder …«
»Wovon redest du?« Sie versuchte, ihre Stimme unbeschwert klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht. »Mir geht’s gut. Ich wollte nicht, dass du die ganzen Schwellungen siehst, sonst hättest du früher kommen können. Eine Weile sah es so aus, als hätte ich zwei Köpfe.« Sie lachte, aber es klang unecht. »Wie geht’s deinem Arm? Anscheinend ganz gut.«
Er schüttelte den Kopf. »Vergiss den Arm. Hör zu, wenn du nicht möchtest, dass ich …«
»Mir geht’s gut, Ryan, ich schwöre es.« Aber ihr Lächeln begann sich aufzulösen. »Ich habe dich draußen spazieren gehen gesehen«, sagte sie schnell. »Ist es richtig kalt? In den Nachrichten haben sie gesagt, es soll die ganze Nacht schneien.«
»Lass es«, sagte er kopfschüttelnd. »Bitte lass es. Lass uns reden.«
»Ich rede doch. Es ist nur …«
Sie versuchte durchzuhalten, hatte ihre Gefühle aber schon zu lange zurückgehalten. Selbst aus ein paar Schritten Entfernung sah er ihre Unterlippe zittern, eine Hand umklammerte krampfhaft die andere. Dann brach die mühsam aufrechterhaltene Fassade endgültig zusammen. Sie begann leise zu weinen, und er ging schnell zu ihr, nahm sie in den Arm und zog sie dicht an sich. Bald schluchzte sie laut, und ihre Tränen tropften auf seinen Pullover. Er hatte einen Kloß in der Kehle, und beinahe hätte er selbst zu weinen begonnen. Ihm war klar, dass er stark sein musste. Schon bei der Geschichte mit Crane
und später mit Vanderveen hatte er sie enttäuscht. Er hasste sich selbst dafür, doch es ließ sich nicht mehr ändern. Aber er wusste, dass er jetzt alles tun würde, was in seinen Kräften stand, um seine Fehler wiedergutzumachen, notfalls bis ans Ende seiner Tage.
Nach etwa zehn Minuten löste sie sich aus seiner Umarmung und setzte sich mit hängenden Schultern auf die Bettkante. Er setzte sich neben sie und hielt ihre linke Hand, geduldig wartend, bis sie sich wieder gefangen hatte.
Als sie dann leise zu sprechen begann, klang ihre Stimme erschöpft. »Ich habe tagelang nicht geschlafen«, murmelte sie. »Sobald ich die Augen schließe, sehe ich ihn vor mir, und wenn es nicht er ist, sehe ich Crane, was in gewisser Hinsicht noch schlimmer ist. Sie sagt nichts, aber es ist auch überflüssig. Ich weiß, wie sehr sie mich hasst, Ryan. Ich habe ihr alles genommen, und nun …«
»Hör auf«, sagte er, bemüht, seine eigenen Gefühle zu verbergen. »Tu dir das nicht an.« Er zog sie an sich, als sie erneut zu weinen begann, und streichelte ihren Rücken. Ihm war klar, dass sie sich durch Worte von ihren Ängsten befreien musste, aber es war seltsam, wenn sie von Crane und Vanderveen redete, als lebten sie noch in irgendeiner Parallelwelt, wo sie nur darauf warteten, sie zu quälen. Er musste sich die Frage stellen, ob sie sich jemals von diesem Schock erholen würde. Der
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