Der Attentäter - The Assassin
insgeheim musste er sich eingestehen, dass es ihm trotz seiner Rachegedanken eigentlich genügte, sich mit seinem Geld zu engagieren. Er war Student, Akademiker … Es lag nicht in seiner Natur, zur Waffe zu greifen, einen Gegner ins Visier zu nehmen und abzudrücken. Um seinen Zorn zu nähren, reichte ihm die Position des am Rand stehenden Beobachters, er empfand kein Bedürfnis, den nächsten logischen Schritt zu tun.
Doch all das begann sich zu ändern in einer kühlen, stillen Nacht Ende Mai, bei seinem dritten Besuch in Sadr City in einem Vierteljahr. Obwohl er London auf sorgfältig geplanten Routen verließ, die potenzielle Verfolger in die Irre führen sollten, wurde er das unangenehme Gefühl nicht los, dass irgendwann der britische Auslandsgeheimdienst MI6 auf ihn
aufmerksam werden könnte. Diese Befürchtung hatte er Kohl gegenüber artikuliert, wie auch seinen Unwillen darüber, dass er London schon in einem so frühen Stadium der Offensive verlassen musste, die bisher nichts gebracht hatte. Das waren die üblichen Klagen, doch diesmal hörte der Deutsche nicht nur mitfühlend zu. Stattdessen sprach er von einer anderen Sache, von Männern im Norden, die nur darauf warteten zu handeln, und die von ihm genannten Namen erkannte al-Umari sofort. Einige kannte er schon seit seiner Kindheit, andere standen immer noch auf jeder Fahndungsliste in Nordamerika und Europa. Da war sie endlich, die Chance, einen echten Sieg davonzutragen. Zwei Stunden lang hörte er Kohl aufmerksam zu, und am nächsten Morgen brach er zum letzten Mal nach Sadr City auf. Und er war nicht traurig darum, dass es das letzte Mal war.
Seitdem hatte er Kohl nur noch sehr selten getroffen; ihr letztes Gespräch hatte vor zehn Tagen in einer Wohnung im Jadriya-Viertel stattgefunden, im Westen Bagdads. Bei diesem Treffen hatte Kohl ihn mit Reiseinstruktionen und den erforderlichen Papieren versorgt, mit denen es ihm hoffentlich gelingen würde, an Straßensperren der irakischen Polizei durchgelassen zu werden. Al-Umari wusste nur zu gut, dass sich bei der irakischen Regierung einiges geändert hatte; bei den von Amerikanern ausgebildeten Sicherheitskräften konnte man sich nicht mehr darauf verlassen, dass sie sich wie früher mit einem saftigen Schmiergeld begnügen würden, um jemanden an einem Checkpoint passieren zu lassen. Aber es stellte sich heraus, dass er gar nicht gezwungen war, dieses Risiko einzugehen. Tatsächlich war während der ganzen Reise - auch beim Grenzübertritt südlich des al-Maze-Militärflughafens - alles erstaunlich glattgegangen. Der Deutsche hatte diese Möglichkeit
für realistisch gehalten, was ihn jedoch nicht davon abhielt, eine endlose Litanei mit Vorsichtsregeln herunterzubeten. Al-Umari hatte seine Worte nicht vergessen, aber er war ein junger Mann mit der halsstarrigen Mentalität seines Alters. Und die Altstadt von Aleppo hatte durchaus ihre Reize.
Der Souk von Aleppo war einer der ältesten im Norden und der beste außerhalb von Damaskus. Am frühen Abend war er gut besucht. Frauen jeden Alters - die meisten im traditionellen Tschador, einige wagemutige in westlicher Kleidung - verlie ßen das Haus, sobald die Hitze nachließ und die Temperatur erträglich wurde. Es war dunkel unter dem Dach aus dickem, an den Bogengängen befestigtem Stoff. Die Stände der Händler wurden nur durch einzelne, an Querverstrebungen baumelnde Laternen beleuchtet. Raschid al-Umari bog am Souk al-Zarb nach links ab und schlenderte gemächlich über den Markt, um alle Eindrücke auf sich wirken zu lassen.
Es war wahrlich ein spektakulärer Anblick. Seit Jahren hatte er nicht so viele Waren auf engem Raum gesehen. Hier schien es praktisch alles zu geben. Kopftücher und Jalabiyyas , jene langen Gewänder, die von Männern und Frauen getragen wurden, in allen nur erdenklichen Größen und Farben. Gewürze und Parfüms, Fleisch und Gemüse, jede Menge Gold- und Silberschmuck. Zu den optischen Eindrücken kamen die Geräusche. Aus allen Richtungen drang das Gefeilsche der Händler mit ihren Kunden an sein Ohr. Der Lärm der vorbeifahrenden Autos erstickte die dünne Stimme einer amerikanischen Popsängerin, deren Song aus dem Kofferradio eines Kindes ertönte. Eigentlich war das Ganze das reinste Chaos, und doch schien es so etwas wie eine geheime Ordnung zu geben, die einen geregelten Ablauf der Geschäfte ermöglichte.
Mit Bagdad ließ sich Aleppo mit Sicherheit nicht vergleichen. In seiner Heimatstadt konnte man sich
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