Der Attentaeter von Brooklyn
überfallen zu werden, wenn er nach dem Weg fragte.
Das Gesicht des Mädchens, das Omar Jussuf gegenüber auf der Bank saß, war von einer pelzgesäumten Kapuze verdeckt. Sogar in ihrem braunen Steppmantel wirkte sie schlank, aber ihre breiten Wangen deuteten auf die Anden hin. Omar Jussuf hörte eine quäkende Popmelodie, und das Mädchen zog ein Handy aus der Tasche. Als sie es aufklappte, beantwortete sie den Anruf zu seiner Überraschung auf Arabisch. Sie rutschte erfreut auf ihrem Sitz hin und her, während sie ins Telefon flüsterte und lächelnd eine Zahnreihe entblößte, die von einer schweren kieferorthopädischen Apparatur eingekerkert war.
»Ich sitze im Zug«, kicherte sie, »im Tunnel gibt’s vielleicht keinen Empfang mehr. Ich ruf dich dann zurück.«
Trotz des pausenlosen Ratterns des Zugs und der leisen, schnellen Stimme des Mädchens erkannte Omar Jussuf die weichen Konsonanten gebildeter Palästinenser. Als sie das Handy wieder in die Tasche steckte, lächelte er sie an. »Von wo in Palästina kommen Sie, meine Tochter?«, fragte er.
Sie riss überrascht die Augen auf. Ist es vielleicht so ungewöhnlich, wenn ein Fremder in diesem Zug jemanden anspricht?, fragte sich Omar Jussuf. Oder hat sie mich einfach nicht für einen Araber gehalten, wie ich sie ja auch für eine Südamerikanerin gehalten habe?
»Jerusalem, o Hadschi «, sagte das Mädchen.
Ich sehe so alt aus, dass junge Leute annehmen, dass ich inzwischen meiner Verpflichtung nachgekommen bin, die Pilgerreise nach Mekka anzutreten, dachte er. »Ich bin kein Hadschi , meine Tochter, aber möge es Allahs Wille sein, Ihnen die Ehre einer solchen Reise zu den Heiligen Städten Arabiens zu schenken.«
»So Allah will, Ustas .«
Allah wird schon wollen, dachte Omar Jussuf, aber ich werde so wenig auf die Hadsch gehen wie ich in Brooklyn zum Beten in eine Moschee gehen werde . Er erinnerte sich an das Papier mit den Gebetszeiten der Alamut-Moschee an Alas Kühlschrank. Er fragte sich, welcher von den Jungs dort wohl betete. Er konnte sich nicht entsinnen, dass einer von ihnen religiös war. Vielleicht hatte sie bloß der Name mit seiner Verbindung zur alten Assassinenbande darauf gebracht, das Blatt aufzuhängen.
»Welches Viertel von Jerusalem?«, sagte er.
»Scheich Jarrah.«
Es war viele Jahre her, dass Omar Jussuf dieses Viertel nördlich der Altstadt besucht hatte. Die führenden arabischen Familien hatten dort ihre Villen, die inzwischen verfielen, seitdem ihre Besitzer nicht mehr über die Macht in der Stadt verfügten. »Wie lange leben Sie schon in New York?«
»Ich bin hier geboren, o Hadschi .« Sie korrigierte sich: »Entschuldigung, ich meine Ustas . Meine Eltern kamen her, als meine Mutter mit mir schwanger war. Und Sie, Ustas ?«
»Ich – besuche meinen Sohn in Bay Ridge«, stammelte Omar Jussuf. »Ich komme aus Bethlehem, aus dem Lager Dehaischa.«
»Mögen Sie sich so fühlen, als seien Sie in New York zu Hause und bei Ihrer Familie.«
»Sie sehen gar nicht aus wie eine typische Palästinenserin.« Omar Jussuf strich sich über die Wangenknochen, um anzudeuten, was an ihrem Äußeren anders war.
»Mein Urgroßvater kam aus Libyen nach Palästina, Ustas «, sagte das Mädchen grinsend. »Meine Mutter sagt, ich hätte die Wangenknochen einer nordafrikanischen Stammesfrau geerbt.«
»Allah segne Sie.« Omar Jussuf schwieg, während der Zug über Weichen rumpelte und das Licht flackerte. »Wie gefällt Ihnen das Leben hier?«
»Ich kenne nichts anderes, Ustas «, sagte das Mädchen. »Meine lieben Eltern mögen Jerusalem sehr, aber ich war nur einmal da. Ein Klima der Frustration schien dort zu herrschen.«
»Diese U-Bahn ist sehr weit weg von Jerusalem.«
»Sie ist auch weit weg von der Angst, die die Menschen dort haben, Ustas .«
Omar Jussuf dachte an die Verzweiflung in den Augen seines Sohnes, als die Polizei ihn abführte, an die enthauptete Leiche und die merkwürdigen Anspielungen auf den verschleierten Mann. Mussten Palästinenser eigentlich immer und überall ihre Probleme mitschleppen? Konnten sie nicht einfach wie Amerikaner sein, mit ihren finanziellen Kämpfen beschäftigt, aber unbelastet von Politik? »Weit weg, meine Tochter? Mir kommt es so vor, als ob die Angst unser Volk schneller einholt, als es davonlaufen kann.«
»Möge Allah das missfallen, Ustas .« Das Mädchen stand auf, als der Zug in die Haltestelle Pacific Street einfuhr. »Hier muss ich raus. Allahs Gnade sei mit Ihnen, Ustas
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