Der Attentaeter von Brooklyn
bestätigte Omar Jussuf darin, dass er besser nicht auf den Empfang gegangen wäre. Der Gedanke an Ala beschäftigte ihn zu sehr. »Vielleicht sollte ich mich ausruhen. Gute Nacht, Magnus.«
In seinem Hotelzimmer verriegelte Omar Jussuf die Tür gleich doppelt und ließ sich schwer auf die Bettkante fallen. Trockene warme Luft rumorte im Heizungsrohr, und der Schweiß stand ihm auf der Glatze. Das Bild von Nisars enthauptetem Körper stieg in ihm auf, und er erinnerte sich an die Familie des Jungen. Er holte seinen Taschenkalender hervor und blätterte ans Ende zur sorgfältig geführten Seite mit Telefonnummern. Als er zum Telefon griff, las er die Anleitung in einem Plastikaufsteller neben dem Telefon und versuchte, eine Verbindung nach draußen zu bekommen. Sein Anruf landete beim Zimmerservice, was ihn lediglich daran erinnerte, dass er kein Abendessen wünschte. Er las die Anleitung ein zweites Mal und hörte dann ein Freizeichen. Während am anderen Ende der Leitung das Telefon klingelte, sah er auf die Uhr und rechnete aus, dass es in Bethlehem zwei Uhr nachts war.
Eine verschlafene, gereizte Stimme antwortete.
»Seien Sie gegrüßt, Abu Chaled«, sagte Omar Jussuf. »Entschuldigen Sie die späte Störung. Hier spricht Abu Ramis. Ich rufe aus New York an.«
Die Stimme wurde freundlicher. »Seien Sie zweifach gegrüßt, Abu Ramis. Machen Sie sich wegen der Zeit keine Sorgen. Von Ihnen zu hören ist stets eine Freude. Wie geht es Ihnen gesundheitlich, mein lieber Herr? Wie geht es Ihrer Familie?«
»Allah sei Dank sind alle wohlauf.«
»Wir müssen Allah dankbar sein. Allah segne Sie, mein Lieber.«
Omar Jussuf hüstelte. »Ich habe aber schlechte Nachrichten für Sie, Abu Chaled.«
Der Mann am Telefon schien wieder schläfrig zu werden. Er stieß eine tiefe, misstrauische Silbe der Zustimmung aus.
»Ich habe heute meinen Sohn in dem Apartment besucht, wo er mit Ihrem Neffen Nisar wohnt.« Omar Jussufs Mund war trocken. »Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass ich Ihren Neffen tot vorfand. Möge Allah ihm gnädig sein.«
»Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet«, flüsterte Abu Chaleb.
»Die New Yorker Polizei ermittelt.«
»Was gibt es da zu ermitteln? Wollen Sie etwa sagen, dass es Mord war?«
»Zumindest scheint der Verdacht zu bestehen.«
»Hat man jemanden verhaftet?«
Omar Jussuf spürte, wie sein Puls raste, als er an seinen Sohn in einer Zelle in Brooklyn dachte. »Bislang hat man keine Verdächtigen.« Seine Unwahrheit kam würgend und stotternd heraus.
»Wie ist er ermordet worden?«
Der Lehrer schwieg. Ich hätte mit dem Anruf warten sollen, bis mein eigener Schock abgeklungen ist , dachte er. Er rang nach Atem. »Das kann ich nicht genau sagen.«
Abu Chaled seufzte, und sein Ausatmen formte sich zu Nisars Namen. »Der Tod kann mit einer Familie furchtbare Spiele spielen, Abu Ramis.«
Omar Jussuf bückte sich zur Minibar und entnahm ihr eine Flasche Wasser. Er öffnete sie und befeuchtete seinen Mund, aber seine Kehle fühlte sich immer noch verkrampft und rau an.
»Mein armer Neffe«, murmelte Abu Chaled. »Als er noch ein kleiner Junge war, fünf Jahre alt, fiel sein lieber Vater einem Anschlag zum Opfer. Genau dort, in New York.«
»Ja, ja«, sagte Omar Jussuf teilnahmsvoll. »Ich teile Ihre Trauer.« Nisars Vater war für seine Schriftstellerei bekannt gewesen, politische Fabeln und heroische Geschichten des Widerstands, die in der ganzen arabischen Welt in Zeitschriften erschienen waren. Wie die meisten palästinensischen Autoren hatte auch er eine propagandistische Position in einer der PLO-Fraktionen inne. Omar Jussuf erinnerte sich an ein Gerücht in Bethlehem, wonach der Mann vom Mossad liquidiert worden sei, um jemanden zum Schweigen zu bringen, dessen Worte eine mächtige Waffe gegen Israel waren.
»Es ist fast so, als wäre er geboren worden, um so zu sterben. Mein lieber Neffe Nisar. Das ist so tragisch.«
Während Abu Chaled schluchzte und ein Gebet murmelte, stiegen in Omar Jussuf Erinnerungen an das verwirkte Leben auf: Nisar, der Hand in Hand mit ihm über die hohe Brustwehr einer verfallenen Kreuzritterburg in Galiläa ging. Nisar, der Tränen über das Furzkissen lachte, das er in der Klasse auf Omar Jussufs Stuhl versteckt hatte und, als er mit seinem Lehrer allein war, weinte, weil er sich nach nichts so sehr wie nach einem Vater sehnte. Das Kätzchen, das er Omar Jussufs Lieblingsenkelin Nadia schenkte, als sie erst ein paar
Weitere Kostenlose Bücher