Der Aufbewarier (German Edition)
nicht nach einem glühenden Anhänger der Nazibande.«
Carla atmete tief durch, schwieg aber. Weidt erhob sich und schob den Schemel mit dem Fuß zurück.
»Wie dem auch sei, Carla, du musst mit ihm sprechen. Ich sehe keine andere Chance.«
Achtundzwanzig
Als der Anruf aus der Rechtsmedizin kam, wollten sich Daut und Rösen gerade auf den Weg zum OSRAM-Werk machen. Sie mussten mehr über Quint erfahren, und ihre einzige Hoffnung waren seine Kollegen. Teskes Assistent war kurz angebunden. »Wir haben den Kopf«, war alles, was er sagte.
Daut hatte seine Kleidung inzwischen so weit gereinigt, dass er andere Menschen nicht mehr erschreckte. Nur sein Bartwuchs passte nicht zum ordentlichen Auftreten eines deutschen Wachtmeisters, er sah eher aus wie ein Landstreicher, der dringend eine Badewanne brauchte.
Für die kurze Strecke vom Alexanderplatz zum Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße brauchten sie eine Stunde. Viele Straßen waren vollständig gesperrt, andere konnte man nur im Schritttempo passieren wegen der Trümmerberge, die sich an den Rändern auftürmten. Immer wieder mussten sie anhalten und warten, weil Menschen mit Lasten auf dem Rücken oder Handkarren hinter sich herziehend den Weg versperrten. In manchen Gebäuden gab es immer noch Glutnester, viele Bauten waren einsturzgefährdet. Überall waren Menschen damit beschäftigt, ihr Hab und Gut zu sichern. Vor einem Haus in der Oranienburger Straße war das Mobiliar aller Wohnungen nach draußen geschafft worden. Stühle, Tische, Schränke, Bettwäsche, Kleidung, alles ordentlich aufgereiht und gestapelt. Ein alter Mann saß auf einem klapprigen Stuhl vor den Habseligkeiten der Hausbewohner, ein Gewehr auf dem Schoß. Die Angst vor Plünderern war nach jedem Luftangriff allgegenwärtig.
Noch immer lag ein ekelerregender Gestank in der Luft nach verbranntem Gummi, versenkten Stoffen, verkohltem Holz und Schlimmerem, an das zu denken Daut sich untersagte, er hätte sich sonst übergeben müssen. Die Müdigkeit hatte ihn völlig im Griff, er sehnte sich nur noch nach seinem Bett und einem tiefen Schlaf, der hoffentlich die Bilder der Nacht und dieser Fahrt vertrieb. Auch sein Trommelfell hatte sich immer noch nicht vollständig erholt, allerdings empfand er es als angenehm, den Krach der Welt nur gedämpft zu hören.
Vor dem Leichenschauhaus stand ein halbes Dutzend Handkarren, auf denen leblose Körper lagen, außerdem ein Leiterwagen, vor den ein mageres Pferd gespannt war. Er war abgedeckt mit einer Plane, aber jeder ahnte, welche Fracht geladen war.
Wegen des großen Andrangs betraten die Polizisten das Gebäude durch einen Nebeneingang. Sie fragten einen Sektionsassistenten nach Teske. Der junge Mann wedelte mit der Hand, ohne eine Richtung zu weisen.
»Irgendwo in dem Grauen hier.«
Jeder verfügbare Platz war belegt. Auf allen Bahren und Tragen lagen Leichen, und weil der Platz trotzdem nicht reichte, auch auf dem Fußboden. Viele Körper waren verstümmelt, manche schrecklich entstellt.
Rösen und Daut versuchten, den Blick so weit wie möglich in die Ferne zu lenken, die Tür am Ende des Ganges zu fixieren, um dem Grauen nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
Teske, der mindestens so übermüdet aussah wie Daut, kam aus dem großen Sektionssaal und begrüßte sie mit einem stummen Nicken.
»Was haben Sie mit all diesen Toten zu tun?«, fragte Rösen. »Die Todesursache dürfte ja feststehen.«
»Da haben Sie recht, Herr Kommissar. Gestorben sind sie am Übermenschenwahn. Was Ihre Frage betrifft, all diese Dahingeschlachteten konnten bisher nicht identifiziert werden, und irgendwohin musste man sie ja bringen, damit Angehörige, Nachbarn, Freunde ihnen Namen und Geschichte geben können. Es ist wichtig, dass sie einen Grabstein bekommen.« Teske schaute Daut aus rot unterlaufenen Augen an und setzte leise hinzu: »Zur Mahnung für künftige Generationen.«
Daut schluckte den Kloß in seinem Hals herunter.
»Ich wusste nicht, dass es so viele Opfer gibt.«
Teske ging in Richtung Sektionssaal und antwortete über die Schulter:
»Nach neuester Zählung rund siebenhundert.«
Daut glaubte für einen Moment, sich verhört zu haben. Bisher hatte es solche Opferzahlen nur in den Großstädten an Rhein und Ruhr gegeben. Jetzt war also Berlin an der Reihe. Lange genug hatten sie in der Reichshauptstadt geglaubt, davonzukommen. Sie hatten sich geirrt.
Auf einem glänzenden, an die Wand des Flurs geschobenen Sektionstisch lagen
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