Der Aufgang Des Abendlandes
Verstandesprozesse, doch jede Denkervernunft
gerät unwillkürlich in tranceartigen Zustand, wo sie alles mit einem Blick zu überschauen sucht. Der ernstlich
Nachdenkende erblindet sozusagen für die näheren Objekte, seine gewöhnliche Wahrnehmung stumpft sich ab,
während er überlegt, so befindet er sich auf dem Weg zur Intuition, die Bergson und Grandjean allein als
großgeistig anerkennen. Das begrüßen wir an sich als Anerkennung des Schöpferisch-Geistigen im
Vergleich zum trockenen Gelehrtenverstand, aber leiten aus obiger Betrachtung ab, daß Intuition und Vernunftdenken nur
graduell verschieden sind, d. h. aus Letzterem die Erstere aufblitzen muß. Denn der intuitive oder gar inspirierte
Zustand, »des Dichters Aug' in schöner Verzückung rollend« (nicht »Wahnsinn« wie Schlegel
mal wieder falsch übersetzt) zeichnet sich dadurch aus, daß die Konturen des tagläufigen Gesichtsfeldes
verschwimmen, das Einzelne nicht mehr unnützes Aufmerken erregt und so Erweiterung des Sehkreises gleichzeitiges
relatives Allsehen verbürgt. Arsène Houssaye sagt von Musset: »Was ist Genie? eine Stunde Betäubung am
Rand eines Abgrundes. Die das Absolute begehren, für die ist alles gut, was sie aus sich selbst heraustreibt.«
Doch die Vielzuvielen sehen weder den Abgrund noch begehren Absolutes und doch verbringen sie ihr Dasein in chronischer
Betäubung der Materietrunkenheit, »der Mensch, weil vernünftig, muß sich betrinken« höhnt
Byron. Vielmehr möchte gerade der Geniale unbetäubt Abgründe überfliegen, nimmt aber wahr, daß sie
überall und nirgends sind in ihm selber wie im Allgott, der immer gewaltiger und doch immer verschwindender wird, je
mehr sich beflügeltes Denken ihm nähert.
Für Pythagoras bedeutete sein »Kreis« die Einheit der Gottsubstanz, sein »Punkt« darin die
Monade, sein Dreieck die Gleichung von Geist, Materie und ihrem Sprößling Welt. Aristoteles verflachte dies in
Linie, Form, Körper, doch wenn die Kabbala den Raum als substantielle Wesenheit erfaßte, so stand auch Demokrit
dieser Urdenkweise keineswegs fern. Moderne legen alles in ihrem Sinne grob buchstäblich aus, wie z. B. Hatha Yoga
»die Kunst willkürlichen Atmens« falsch wörtlich verstanden wird, während es innerlichen Geistatem
der Selbstbeherrschung bedeutet. Sie hatten es freilich schwer, sich aus mittelalterlicher Scholastik herauszuarbeiten, die
einige Reste von Grundwahrheiten so durch Kirchendogmen filtrierte, daß nur ein schwächlicher Abguß
übrig blieb. Descartes mit seinem Korpuskularplenum blieb ganz Dualist, für Leibniz' ätherisches Plenum sind
Atom und Element geistige Wesen, deren Natur das Wissen, Spinozas untätige Substanz wird ihm Energie, doch die Monaden
bleiben ihm unkörperliche Automaten (Entelechien wie bei Aristoteles), während doch alle Teile einer tätigen
Substanz Energien sein müssen. In Hegels vernunftgeschwängerter Welt ist alles einer universalen Existenz
untergeordnet, ihr dienstbar und Werkzeug zu ihrer Entwicklung, doch zu welcher? Wieviel klarer und gesunder schreibt der
alte Plutarch: »Eine Idee ist ein unkörperliches Wesen, das an sich selbst kein Dasein hat, doch der gestaltlosen
Masse Figur und Farbe gibt und so Ursache der Offenbarung wird.« Denn Ideengeist im All kann als ursächlich
gedacht werden, substantielle Existenz nur als bestehende Wirkung, die nichts erklärt. Der Psychophysiker G. Th. Fechner
(»Zendavesta«, »vom Leben nach dem Tode«) meint, daß alle Gestorbenen noch als die gleichen
Individuen in anderen Lebenden fortdauern, Wundt empfiehlt diese Phantastik, während er und Fechner die
»Seelenwanderung« phantastisch nennen! Hört man dies unbeholfene Wort Seelenwanderung, so weiß man
schon, welch unwissende Vorstellungen die Karmalehre in europäisch Verbildeten annimmt. (Unendliche
Oberflächlichkeit in solchen Dingen! Der große Orientalist M. Müller verwechselt Vedanta mit Buddha, der
große Sanskritkenner Rys Davids Buddha mit esoterischer Geheimlehre.) Wir kommen also wieder zum Doppelich, dem des
Lebenden und des Verstorbenen, der sich ihm zugesellt, abstruser Dualismus. Rationalist Spencer führt aber auch mit
vollen Segeln in die hohe See der Spekulation, wo alles, was als feste Säule des Herkules aufragt, weggeschwemmt wird
von einem Meer unergründlicher Elemente »unter Bedingungen, die hervorzubringen die Chemie nicht imstande
war«. Als den einzigen ehrlichen systematischen Denker schätzen
Weitere Kostenlose Bücher