Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
aufrechten Gang. In Folge jener sprichwörtlichen (aber, wie wir heute wissen, irrealen) anthropogenetischen «Urszene», in der die Vorfahren des Menschen aus dem schrumpfenden Regenwald heraus auf die Savanne traten, habe sich ihr Wahrnehmungshorizont schlaglichtartig erweitert und damit zugleich ein erheblicher «Vorteil gegenüber allen Rivalen auf der Lebensszene» eingestellt. Die Pointe besteht nun darin, dass der biologische Gewinn der Selbstaufrichtung einen erheblichen existentiellen Preis kostete: «Dieses explodierte Sehenkönnen ist aber zugleich ein exponiertes Gesehenwerdenkönnen.» (777) Blumenbergs Gedanke, so könnte man meinen, besteht einfach darin, dass der aufgerichtete Mensch weiter sieht und dadurch Beutetiere früher erkennen und leichter jagen kann; dass er Fressfeinde wie Löwen oder Hyänen früher gewahr werden kann und damit bessere Fluchtchancen hat; dass umgekehrt aber auch gilt: Beutetiere und Fressfeinde sehen den aufgerichteten Menschen früher und können daher früher fliehen oder angreifen. An solche biologisch naheliegenden Fälle denkt Blumenberg aber gerade nicht! Das bedrohliche Gesehenwerdenkönnen des Menschen erweist sich als ein Gesehenwerdenkönnen durch Artgenossen. Nicht dass die Karnickel schneller weglaufen oder die Hyänen schneller angreifen können, ist das Problem, sondern dass der aufgerichtete Mensch für seinesgleichen sichtbar wird. Die existentiell grundlegende «Visibilität» des Menschen bedeutet «vor allem, dass er vom Sehenkönnen der anderen ständig durchdrungen und bestimmt ist, sie als Sehende im Dauerkalkül seiner Lebensformen und Lebensverrichtungen hat». (778) – Es ist leicht erkennbar, dass diese Überlegungen auf eine naturalisierte Version von Jean-Paul Sartres existentialistischer Analyse des «Blicks» im dritten Teil von Das Sein und das Nichts hinauslaufen. Und ebenso leicht ist zu sehen, dass nichts an ihnen plausibel ist. Niemand wird im Ernst behaupten wollen, dass vierfüßige Tiere füreinander unsichtbar sind. Und wenn die Visibilität mit dem aufrechten Gang in die Welt gekommen wäre: Müsste das Gesehenwerdenkönnen dann nicht auch für die Pinguine zum existentiellen Problem geworden sein?
Unabhängig von allen Plausibilitäts- und Wahrheitsfragen sind Blumenbergs Überlegungen aber aus zwei Gründen aufschlussreich. Zum einen lassen sie erkennen, dass das anthropologische Selbstbewusstsein der Moderne keine Inseln der Sicherheit akzeptiert; dass es vielmehr danach strebt, die Quellen der Unsicherheit in der Verfassung der Welt und in der Natur des Menschen möglichst tief zu lokalisieren. Zum anderen zeigen sie aber auch, dass die postkosmologische Verunsicherung nicht mit einem existentiellen Selbstmitleid ineins fallen muss, wie es von einigen habituellen Misanthropologen zelebriert wird. Natürlich kann man den Menschen für einen kompletten Fehlschlag und den aufrechten Gang für eine frivole «Selbststilisierung» halten. [47] Aber das ist keine zwingende Folgerung aus der Gefährdungsdiagnose, auf die das anthropologische Denken der Moderne stetig zugetrieben ist. Für Blumenberg (167f., 803ff.) war das Gesehenwerdenkönnen eine Quelle des Selbstbewusstseins und der Reflexion: Errungenschaften die er ex professio schwerlich bedauern konnte. Andere Autoren [48] haben in der körperlichen Aufrichtung die Basis der menschlichen Freiheit gesehen: Ein Vorzug, den die Tiere nicht besitzen und der auch dann ein Vorzug bleibt, wenn er mit Risiken einhergeht. Erwin Straus will die conditio humana nicht bejammern, wenn er im Hinblick auf die aufrechte Haltung schreibt «Mit der Freiheit wächst die Bedrohtheit, mit der Bedrohtheit die Freiheit», (1949: 228) sondern will auf eine nüchtern in Rechnung zu stellende Tatsache hinweisen. Die postkosmologische Welt ist keine Welt, in der Geschenke verteilt werden; wir genießen den Vorzug der Freiheit daher nicht gratis. In einer solchen Welt gibt die aufrechte Haltung keinen Grund für anthropologischen Triumphalismus, auch wenn sie immerhin die Selbsterhaltung erleichtert.
Vierter Teil
Freihändige Kulturwesen
D ie vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, wie sich das moderne Denken in einem langen, mühevollen und kontroversen Prozess vom klassischen Welt- und Selbstbild des Menschen abgesetzt hat. Für die Deutung des aufrechten Ganges hatte dieser Prozess einschneidende Konsequenzen. Erstens erscheint er nun nicht mehr als ein Privileg, das der Mensch einer
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